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Anziehung

by LittleTiger

 

 

Nebel zieht auf, das Wetter schlägt um. Der Mond versammelt
Wolken im Kreis. Das Eis auf dem See hat Risse und reibt sich.
Komm über den See.

Sarah Kirsch - Anziehung

 

 




PROLOG

 

Etwas Rauhes kratzte an seiner Handfläche. Er wunderte sich nicht, wie er hierher gekommen war; wenn er begann, sich auch noch darüber Sorgen zu machen, würde er bald verrückt werden. Rinde. Verwitterte, uralte Rinde. Zumindest war der Baum etwas Solides, etwas, an dem er sich festhalten konnte. Er schloß die Augen und preßte sein Gesicht an das warme Holz. Der freundliche Geruch umfing ihn und trug ihn zurück in eine Zeit, die er schon lange vergessen geglaubt hatte.

<< Machst du mir einen Bogen, Ky? Wir können Holz suchen gehen, im Park. Und Schnüre! Und Federn für die Pfeile! >>

Seine gesunde Hand strich gedankenverloren über den Stamm, immer höher, bis sie schließlich die Gabelung ertastete. Eine breite Astgabel, von der sich ein mächtiger Ast in sanftem Bogen nach außen schwang, während sein Zwilling kerzengerade nach oben lief, wo zwischen den Zweigen ein altes Spechtloch verborgen war.

<< Das ist unser Baum, Ky. Wenn wir groß sind, werden wir wieder hierher kommen und hinaufklettern, damit alle wissen, daß es unser Baum ist. >>

Es war der Baum. Als er ein Kind gewesen war, war ihm die erste Gabel unendlich hoch erschienen, jetzt reichte sie ihm bis an die Schultern, und er konnte die Harzkristalle und die Spinnweben sehen, die sich an ihrem Boden gebildet hatten.

Wieso war er hier? Bisher hatte er noch nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, daß er in der Stadt war, die seine Heimat gewesen war, als er noch nicht wußte, was das Wort bedeutete. Er hatte einen x-beliebigen Greyhound-Bus genommen, der erste, der die Station verlassen hatte, ohne auf das Ziel zu achten. Während der Fahrt hatte er die Haltestellen überflogen, aber die Namen der Orte hatten keine Bedeutung mehr für ihn gehabt, nicht nach so langer Zeit.

Er hätte besser aufpassen müssen. Solche Fehler durften ihm nicht passieren. Gar nicht gut, Alex, das gibt Strafpunkte.

Er mußte weg von hier. Es war zu einfach, ihn hier zu finden. So weit weg wie möglich.

Aber er war müde. So unendlich müde.




 

1. TEIL

 

Hannah Askavold malte in Gedanken versunken Kringel in die Schaumberge, die sich in der Spüle vor ihr auftürmten, während sie Kathy beim Üben zuhörte. Ihre kleine Schwester saß an dem im Vergleich zu ihrer kleinen Gestalt riesigen Piano an der gegenüberliegenden Küchenwand und scheiterte zum vierten Mal an einer Passage aus "Mary had a little lamb". Sie hatte ihr den Rücken zugekehrt, aber Hannah wußte, daß Kathy in diesem Moment die Zunge zwischen die Zähne geschoben und die Oberlippe hochgezogen hatte, um ihren Fingern bei den ungewohnten Verrenkungen zu helfen. Kathy war sechs Jahre alt und hatte erst vor ein paar Monaten mit dem Klavierspielen begonnen; hauptsächlich, damit sie nun selber üben konnte, anstatt auf dem Schoß ihrer Mutter herumzuturnen, wann immer diese sich ans Klavier setzte. Woran sich bisher nichts geändert hatte.

Der Garten vor der Küche war in Dunkelheit getaucht, doch durch die Verandatür drang etwas Licht nach draußen - ein warmes Dreieck im herbstlichen Gras. Die Küche selber war nur von dem Licht über der Spüle und jenem über dem Notenpult des Klaviers erhellt, was Hannah zusammen mit dem sanften Kuchengeruch in eine schon fast weihnachtliche Stimmung versetzte. Vielleicht machte das aber auch nur die ungewöhnliche Ruhe, die im Haus herrschte, weil ihr Vater mit den Zwillingen nach Seattle gefahren war. Hannah freute sich schon auf die sieben wundervollen Tage ohne das Geschrei und Getrampel der beiden Jungs, nur Kathy, ihre Mutter und sie.

Ein fünftes Mal brach das Lied ab, und Hannah lächelte leise, als sie Kathy halblaut ein Wort gebrauchen hörte, das nur aus dem Wortschatz der Zwillinge stammen konnte.

"Warum probierst du nicht einmal einen anderen Rhythmus?" schlug sie vor und begann dabei, das Geschirr vom Abendessen zu spülen, "Vielleicht eine Jazzversion?"

Sie summte die Melodie von "Mary had a little lamb" in einer Weise, die fast nach Rag-Time klang. Kathy probierte ein paar Mal und hatte dann den Rhythmus gefunden.

"Das ist toll!"

Dieses Mal hatte sie keine Probleme mit dem "lamb" mehr, auch wenn das Lied nicht mehr unbedingt auf Anhieb zu erkennen war.

"Spielst du dann was mit mir, Han? Vierhändig?"

"Später vielleicht."

 

*****


Hannah versenkte ein paar Teller im Wasser und zerstörte damit eine ganze alpine Region. Das Wasserrauschen im angrenzenden Badezimmer hatte aufgehört, und kurze Zeit später kam ihre Mutter in die Küche, angetan mit einem Bademantel und nassen Haaren.

"Jetzt könntest du das Lied aber wieder normal spielen. Han wollte dir nur zeigen, daß es manchmal leichter ist, ein Problem zu meistern, wenn man sich nicht zu sehr darauf konzentriert."

Sarah Askavold setzte sich an den großen Küchentisch und legte die nackten Beine auf einen Stuhl. "Wenn du so weitermachst, wirst du mir noch wie Han. Und eine verrückte Physiotherapeutin in der Familie ist mehr als genug."

Hannah schlug lachend mit dem Handtuch nach ihrer Mutter.

"Nimm den Mund nicht zu voll, Oma Sarah, sonst verrate ich allen, von wem Kathy und ich unsere aufmüpfigen Gene haben. Und gebe auch Jeremy ein paar davon ab."

Eine schaumige Hand schoß blitzschnell nach vorne, doch Sarah Askavold wich der Attacke ihrer Tochter gewandt aus, um ihr das Handtuch zu entwinden und es dann wie eine Trophäe nach gewonnenem Kampf zu schwenken.

"Ihr werdet noch Miro wecken mit eurem Lärm", sagte Kathy in ihrem naseweisen Mein-Gott-nun-benehmt-euch-schon-wie-erwachsene-Menschen-Ton, der eigentlich für die Zwillinge reserviert war. Doch plötzlich verschwand das Grinsen aus ihrem Gesicht.

"Was war das?" fragte sie, lauschend.

"Was war was?" Hannah wischte sich einen Schaumspritzer von der Nase und versuchte angestrengt, etwas zu hören. "Bitte sag nicht, daß Miro wach ist!"

"Nein, das kam von draußen. Ein leises Kratzen, so, als wäre jemand auf der Terrasse."

"Das ist doch bloß Spencer, der für heute abend genug von Liebshändeln hat."

Ihre Mutter ging hinüber zur Verandatür und öffnete sie einen Spalt weit, um die große, dreifarbige Tigerkatze hereinzulassen, die davor gesessen hatte. Der Kater schritt majestätisch-würdevoll in die Küche und ließ sich dazu herab, im Vorübergehen am Bein seiner Herrin vorüberzustreichen. Sarah beugt sich zu ihm hinunter, um ihm die Nase zu streicheln, worauf der Kater vor Genuß zu sabbern begann.

"Na, Romeo, bist du zum Zug gekommen? Irgendwelche Eindringlinge im Revi-"

Ein augenblicklich erstickter Schrei ließ ihre Töchter herumfahren. Noch aus den Augenwinkeln sah Hannah einen Schatten auf der Veranda, gegen die ihn umgebende Dunkelheit nur dadurch auszumachen, daß er sich bewegte. Bruchteile von Sekunden später stand der Mann hinter Sarah, die behandschuhte Hand auf ihrem Mund, in der anderen, matt glänzend im weichen Licht, eine Pistole.

Mit seinem Körper drängte er Sarah weiter in die Küche und hakte gleichzeitig die Waffe ins Band des Rolladens, so daß dieser vor der Verandatür herunterratterte. Sarah wehrte sich verzweifelt, doch der Mann hielt ihren Kopf in eisernem Griff gegen seine Schulter gepreßt, ohne darauf zu achten, daß ihre Fingernägel blutige Striemen auf seinem Arm hinterließen.

Wie beiläufig und traumwandlerisch langsam hob er die Pistole an Sarahs Schläfe, und sie erstarrte, als sie das kalte Metall auf ihrer Haut spürte.

Sein Blick hatte keinen Augenblick von Hannah gelassen.

Hannah war wie versteinert. Die merkwürdig farblosen Augen hielten sie wie in einer physischen Umklammerung gefangen, und es war ihr unmöglich, sich aus ihrem Griff zu befreien. Einen Moment lang fühlte sie gar nichts, und die Leere pochte in ihren Schläfen, wie um sie daran zu erinnern, daß sie Angst haben sollte, schreien, irgend etwas tun. Sie konnte nicht.

Ein unbeteiligter Teil ihres Gehirns registrierte das leise Ticken der Küchenuhr als wären es große Tropfen aus einem Wasserhahn, wenn man versucht einzuschlafen. Große, zähe Tropfen Zeit.

Dann schrie Jeremy, und der Bann war gebrochen.

Erleichtert wandte Hannah sich ab.

"Halt!" Der Befehl stoppte sie in der Mitte der Küche. Sie drehte sich halb zu dem Mann um und fing seinen Blick ein. Dieses Mal hielt sie ihm stand.

"Das Baby weint!"

Ein paar Sekunden lang starrten sie sich an, und der unbeteiligte Teil ihres Gehirns registrierte ein Deja-vue. Doch dieses Mal war er es, der als erster seinen Blick abwandte.

*****


Jeremy lag auf dem großen französischen Bett ihrer Eltern, die Fäuste geballt und das Gesichtchen rot vor gebrülltem Zorn. Sie nahm ihn mitsamt seiner Schmusedecke hoch und tastete mit der Linken zwischen den Kissen nach seinem Schnuller. Lange würde er ihn nicht mehr als Ersatzbefriedigung tolerieren, er hatte schon vor einiger Zeit begonnen, ihn auszuspucken, noch bevor er ganz eingeschlafen war. Doch noch ließ er sich damit beruhigen, und Hannah war froh, daß sein Geheul gehorsam zu einem leisen Schluchzen verstummte, als sie ihm den Schnuller in den Mund schob. Sie lächelte, als sich seine Stirn verzog, als sei er selber darüber erstaunt, daß er sich so leicht übertölpen ließ, und wischte ihm mit dem Daumen eine Träne vom Kinn.


*****

 

In der Küche schien die Zeit inzwischen stillgestanden zu sein. Keiner hatte sich bewegt. Kathy saß noch immer am Klavier, eine Hand auf den Tasten, als sei sie während des Spielens dort angefroren. Sie hatte sich halb umgewandt und sah mit vor Panik dunklen Augen dorthin, wo der Fremde ihrer Mutter eine Pistole an den Kopf hielt. Sie gab keinen Ton von sich, und doch bebte ihr schmaler Körper wie von lautlosem Schluchzen.

Hannah legte die Hand auf ihre Schulter und drückte sie zärtlich.

Beide Kinder an sich gepreßt hob sie den Kopf, um sich dem Eindringling zu stellen. Doch der machte immer noch keine Anstalten, irgend etwas zu tun.

Patt mit Pistole.

Hannah verlor langsam die Geduld. Wenn das ein Raubüberfall sein sollte, war er denkbar schlecht durchdacht, der Typ schien keine Ahnung zu haben, was er als nächstes tun sollte. Würde er sie in Frieden lassen, wenn sie ihm alles Geld gab, daß sie im Haus hatten? Welche Reichtümer erwartete er im Haus einer Tierärztin mit fünf Kinder und vier Katzen?

Er war nicht zufällig hier. Hannah wußte es, ohne einen Grund dafür nennen zu können. Sie bezweifelte, daß das ein Raubüberfall war. Aber was wollte er, wenn nicht Geld? Ein entflohener Sträfling? Abgerissen genug sah er dafür aus in der abgewetzten Lederjacke und den Jeans, die wahrscheinlich schon vor ein paar Tagen den Punkt erreicht hatten, an dem sie einfach nicht mehr schmutziger werden konnten. Aber es gab kein Gefängnis in der Nähe und sie hatte keine Warnungen gehört. Und wieso suchte er sich ausgerechnet ein Haus mitten in der Stadt als Unterschlupf aus? Vielleicht war er einfach nur ein Verrückter.

Na toll.

Und dann ließ der Fremde Sarah frei. Ließ einfach den Arm mit der Waffe sinken, als hätte er es sich anders überlegt. Er stand hinter ihr wie selbst überrascht ob seiner Entscheidung, und so, als sei er sich nicht sicher, ob er nicht vielleicht doch einen Fehler gemacht hatte. Aber dafür war es jetzt schon zu spät, denn Sarah hatte sich instinktiv langsam, Schritt für Schritt von ihm entfernt und war nun außerhalb seiner Reichweite bei ihren Töchtern.

Jetzt waren sie drei gegen einen, und er konnte sie unmöglich alle gleichzeitig in Schach halten. Würde er schießen, wenn sie etwas unternahmen? Hannah wußte es nicht. Er hatte ihre Mutter ohne erfindlichen Grund als Geisel genommen und sie genauso schnell wieder freigelassen. War er so sehr von sich überzeugt?

Aber es war ganz anders.

Hannah merkte es erst, als ihm die Pistole aus den Fingern glitt und mit unnatürlich lautem, dumpfen Geräusch zu Boden fiel.

Er war verletzt.

Ein Tropfen dunklen Bluts zeichnete seinen Weg langsam auf die nun schlaff herabhängende Hand. Hannah sah erst jetzt, wie gespenstisch bleich der Mann unter den dunklen Haaren war. Er fixierte sie immer noch, aber dieses Mal glaubte sie, ein stummes Flehen in seinem Blick zu lesen. Seine Pupillen weiteten sich, bis sie die Iris, die sie gefangen gehalten hatte, zu einen schmalen grauen Ring zurückgedrängt hatten, ein Grau von solcher Intensität, daß es alle Farben übertraf, die sie je gesehen hatte.

Wie hypnotisiert ging sie auf ihn zu, ohne zu merken, daß sie noch immer Jeremy auf dem Arm trug. Zwei Schritte vor ihm blieb sie stehen und beugte sich vor, um die Waffe aufzuheben. Er machte nicht einmal den Versuch, sie daran zu hindern. Hannah sah die Schweißperlen, die sich an seinem Haaransatz gebildet hatten. Er konnte nicht. Sie wußten beide, daß er am Ende seiner Kräfte war.

Unsicher machte er einen Schritt rückwärts und streckte seine gesunde Hand aus, um sich an der Wand abzustützen. Er ließ sich daran hinabgleiten, bis er auf dem Boden saß. Sein rechter Arm hing an seiner Seite herab wie ein nutzloses Stück Stoff, die Handfläche nach außen gewendet und blutig.

"Kathy? Komm her, du mußt Miro nehmen." Hannah wandte keinen Augenblick den Blick von dem vor ihr kauernden Mann, nicht einmal, als sie das Baby ihrer Schwester gab, die sich sofort wieder zurückzog.

Sie ging vorsichtig in die Knie und streckte die Hand aus, langsam und mit leicht gespreizten Fingern, so als wolle sie ein wildes Tier berühren. Der Mann wich zurück, aber die Wand in seinem Rücken verhinderte, daß er sich außer Reichweite bringen konnte. Resigniert und wie erstarrt ließ er zu, daß sie ihre Hand unter seine Jacke schob und sie über der rechten Schulter anhob. Darunter kam ein nicht minder schmutziges T-Shirt zum Vorschein, dessen rechte Seite blutverkrustet und zerrissen war. Sie hatte eine Schußverletzung erwartet. Vielleicht wegen des vielen Blutes, weil er sie mit einer Pistole bedroht hatte, oder einfach, weil sie zu viele Krimis gesehen hatte - aber sie fand etwas anderes.

Er hatte einen zusammengeknüllten Fetzen Stoff, der vielleicht einmal ein Unterhemd gewesen war, unter die Jacke gestopft, um die Blutung zu stillen, und als sie ihn vorsichtig löste, kam darunter ein tiefer Schnitt zum Vorschein, der wie der Prankenhieb von etwas sehr Großem aussah: ausgefranst, schmutzig, häßlich. Dem verklumpten Blut - und vor allem dem Geruch - nach zu urteilen, war die Wunde schon mehrere Tage alt.

Hannah sah hoch und fand sich kaum zwanzig Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Er starrte sie wie hypnotisiert an und schien nicht einmal bemerkt zu haben, daß sie seine Schulter untersucht hatte.

Er war bestimmt nicht älter als sie, obwohl sein Alter schwer zu schätzen war. Wenn sie sich unter anderen Umständen getroffen hätten - wenn er sauber gewesen wäre, die Haare ordentlich geschnitten und in sauberen Kleidern - hätte er wahrscheinlich jünger gewirkt. Und doch wurden seine gelegentlich durchbrechenden Schuljungen-Attitüden, die nervösen Handbewegungen, mit denen er sein Haar zurückstrich, die scheue Neugier in seinem Blick, die meiste Zeit im eisern Zaum gehalten von Erfahrungen, für die er eigentlich nicht alt genug hätte sein dürfen. Erfahrungen, die seine Bewegungen abgeschliffen hatten, so daß sie den Eindruck machten, als habe er zu jedem Zeitpunkt die volle, bewußte Kontrolle über jeden einzelnen Muskel in seinem Körper.

Trotzdem, wäre es nur das gewesen, hätte Hannah dem keine besondere Bedeutung zugemessen. Die selbstbewußte, sichere Art, in der er aufgetreten war, als sei andere in seine Gewalt zu bringen etwas so Natürliches wie Laufen oder Treppensteigen, etwas, das man gelernt und seither tausendmal gemacht hat, irritierte sie. Er war wie blind und taub für ihre Angst gewesen, kalt und völlig gleichgültig, wie jemand, der einen nicht besonders angenehmen, aber notwendigen Job verrichtet. Aber seine Augen verrieten ihn jetzt, da die Schmerzen seine Tarnung durchbrochen hatten. Die in Fleisch und Blut übergegeangenen Manierismen und die Maske des coolen Gangsters waren fort und hatten einen verunsicherten, verängstigten Jungen zurückgelassen.

Irgend etwas an ihm erinnerte sie an Pierrot, Kathys Lieblingskatze, der als kleiner Kater in eine Marderfalle getappt war und sich auf drei Beinen vor ihre Haustür geschleppt hatte, als wisse er, daß ihm hier geholfen werden würde. Sie hatten ihm geholfen, und zum Dank war Pierrot gleich geblieben.

War es das, was er gesucht hatte? Hilfe? Aber warum ausgerechnet bei ihnen? Und wenn, wieso war er dann aufgetreten wie eine schlechte Tarentino-Figur? Nun, das herauszufinden konnte warten. Im Moment gab es Wichtigeres zu tun.

"Mom, er ist verletzt." Natürlich hatte das mittlerweile jeder gemerkt, aber es schien ihr eine gute Einleitung für das, was sie ihrer Mutter möglichst schonend beizubringen gedachte. Schließlich würde sie den Großteil der Arbeit tun müssen. "Kannst du ihm nicht helfen?"

"Hannah!!!"

Sie sah sich nicht um. Sarah war zu überrumpelt ob dieses Vorschlags, als daß sie wütend hätte sein können. Und sie wußte selber, daß sie eigentlich die Polizei hätten rufen sollen. Aber etwas in ihr sträubte sich dagegen.

"Er hat uns nichts getan. Nicht wirklich." sagte sie mit fester Stimme, um ihre Mutter gar nicht erst zum Nachdenken kommen zu lassen, "Glaubst du, er würde so durch die Gegend laufen, wenn er einen Platz hätte, wo er hin kann?"

Keine Antwort. Offenbar hatte Sarah Probleme, mit der Situation - und vor allem mit der Reaktion ihrer Tochter fertig zu werden.

Hannah wechselte Taktik. "Bitte?"

Ein Wort. Der blauäugige Ach-können-wir-ihn-nicht-behalten-Ton aller Kinder im Angesicht eines Streuners, der plötzlich vor der Haustür steht.

Sarahs logisches Denkvermögen kapitulierte. Alles, was sie wußte war, daß ihre älteste Tochter weder leichtfertig noch dumm war. Bei allem, was sie tat, war sie sich ihrer Sache völlig sicher. Und sie hätten keine vier Katzen gehabt, wenn sie diesem Ton hätte widerstehen können.



*****

 

Hannah ging zurück in den Behandlungsraum, wo der Fremde auf dem Untersuchungstisch saß. Sie hatten den Tisch mit dem Kopfende an die Wand geschoben, damit er sich dagegenlehnen konnte; denn obwohl man die Platte nach allen Richtungen klappen konnte - was ziemlich praktisch zum Fixieren diverser narkotisierter Kleintiere war - hatte er kein höhenverstellbares Kopfteil, und sie hatten mit Hilfe einiger Kissen improvisieren müssen. Trotz allem war der Tisch - gedacht für Vierbeiner, die im Durchschnitt nicht größer als ein Schäferhund waren - immer noch zu kurz. Der Fremde hatte die Beine angezogen, was ihn noch verletzlicher wirken ließ, als es die spannenlange, frisch genähte Wunde, die eingeknickte Schulter und die Prellungen auf seiner rechten Thoraxseite es ohnehin schon taten.

Er öffnete die Augen, noch bevor sie halb durchs Zimmer war. Obwohl sie den Eindruck gehabt hatte, er schlafe, als sie den Raum verlassen hatte, schien er den Streit, den sie im Nebenzimmer mit ihrer Mutter gehabt hatte, sehr wohl mitbekommen zu haben. Sarah hatte widerstrebend eingewilligt, ihn notdürftig zu verarzten, aber sie war gar nicht begeistert von der Aussicht, einen Einbrecher, der sie und ihre Kinder mit einer Waffe bedroht hatte, für die Nacht unter ihrem Dach zu beherbergen.

"Und, wie ist das Urteil ausgefallen?" fragte er, und seine Stimme troff vor Sarkasmus. Sein Körper hatte ihn im Stich gelassen, doch er war in sein Machogehabe zurückgefallen, sobald er wieder genug Kraft gesammelt hatte, um alleine sitzen zu können.

"Die Schulter ist wahrscheinlich gebrochen", erklärte Hannah und tat so, als hätte sie nicht verstanden, was er meinte "Das Schlüsselbein sicher, das Schulterblatt vielleicht auch."

Die Nachricht schien ihn kalt zu lassen. Nun, er hatte wohl kein Röntgengerät gebraucht, um zum selben Schluß zu kommen.

"Ich werde die Schulter schienen", fuhr Hannah fort, "Es ist nicht gerade angenehm, aber wenn der Arm erst einmal fixiert ist, werden die Brüche in ein paar Wochen geheilt sein."

Sie hatte den Wagen mit dem Verbandszeug zu sich gezogen und wählte nun mit äußerster Sorgfalt einige Binden aus. Keiner sprach ein Wort, während sie die Wunde abdeckte, die Achsel auspolsterte und seinen Arm dann an den Körper band.

Das Schweigen hing wie ein unsichtbares Gewicht über ihren Köpfen, und letztlich war es Hannah, die es brach. "Wie ist das passiert?"

"Ich bin von einer Mauer gefallen."

"Geradewegs in ein offenes Messer?" Sie sah von ihrer Arbeit hoch, Herausforderung offen in ihrem Blick.

"Das Messer war der Grund dafür, daß ich von der Mauer gefallen bin. Meine Arbeitgeber fanden ich sei... überqualifiziert."

"Sie wollten dich umbringen?!?"

Ob ihrer Entrüstung stahl sich ein unwillkürliches Lächeln auf sein Gesicht.

"Sie wollten mich umbringen lassen. Wenn sie ihre Drecksarbeit selber erledigen würden, hätten sie mich nie gebraucht."

Sie war glücklicherweise gerade fertig und konzentrierte sich statt einer Antwort einfach darauf, das Ende der Binde mit einem kleinen Haken zu befestigen. Dann trat sie einen Schritt zurück, um ihr Werk prüfend zu betrachten. Er hatte gewisse Ähnlichkeiten mit einem Weihnachtspaket, verschnürt, wie er jetzt war. Der Verband zwang ihn in eine ziemlich unnatürliche Haltung, was zwar unbequem, aber immer noch besser als Schmerzen war.

Erst dann merkte sie, daß er zitterte.

"Ich werde dir etwas Sauberes zum Anziehen holen. Du kannst heute Nacht im Zimmer der Zwillinge schlafen". Sie ignorierte seine Reaktion auf die Erwähnung der Zwillinge bewußt - sie konnte seine Gedanken förmlich lesen und wollte nur noch raus aus diesem Raum, ... sie sind mit Dad nach Seattle gefahren und kommen erst übermorgen wieder. Ich werde dir auch ein paar zusätzliche Decken bringen."

 


 

2. TEIL

 

Kathy saß auf dem Klo, als sie das Klavier hörte. Hannah übte! Ihre große Schwester spielte nur mehr selten Klavier, deshalb waren solche Anlässe für Kathy immer so etwas wie Festtage mit Lieblingsgericht für sie, und wenn es nur irgendwie ging versäumte sie keine Sekunde davon. Sie stürmte mit solchem Tempo aus dem Bad, daß sie um ein Haar den Türrahmen gestreift hätte.

"Han, warum hast du mich nicht-" Sie bremste so abrupt, daß sie beinahe der Länge nach hingeschlagen wäre. Es war nicht Hannah, die spielte. Am Klavier saß der fremde Mann.

Kathy stand da wie versteinert. Ihre Mutter hatte gesagt, daß sie sich nicht vor ihm zu fürchten brauchte, er könne ihr nichts tun. Weil er ja verletzt war. Außerdem würden Mom und Hannah schon dafür sorgen, daß ihr nichts passierte. Das war schließlich ihr Zuhause, ihre Küche und ihr Klavier! Entschlossen schob sie das Kinn vor und versuchte tapfer, das Zittern zu unterdrücken, das sich dummerweise in ihre Stimme geschlichen hatte.

"Das ist Hannahs Fingerübung!", sagte sie trotzig, "Sie hat sie mir gezeigt, nur mir. Du kannst sie nicht kennen!"

Er musterte sie nachdenklich über die Schulter hinweg.

"Ich habe gehört, wie du sie gestern abend gespielt hast. Als ich auf der Terrasse war."

"Du hast sie nur einmal gehört und kannst sie spielen?" fragte Kathy ungläubig. Sie hatte Tage gebraucht, um die Übung richtig hinzukriegen! Der Mann - Hannah hatte gesagt, er heiße Alex, wie der Hamster, den sie einmal gehabt hatten - strich zärtlich über die Tasten, so als wären sie etwas furchtbar Wertvolles, das man nicht mit schmutzigen Fingern berühren durfte.

"Du hast es ein paar Mal gespielt." Ein sarkastisches Lächeln umspielte seinen Mund und erreichte beinahe seine Augen. Beinahe. "Ich habe ein absolutes Gehör."

Kathy trat mißtrauisch einen Schritt zurück. "Han hat ein absolutes Gehör. Mom hat gesagt, daß das etwas ganz, ganz Seltenes ist. Du flunkerst doch, oder?"

"Nein." Abwesend spielte er die Melodie noch einmal, langsam und ungeschickt, aber ohne einmal danebenzugreifen. ,"u hast recht, das kommt nur ganz selten vor. Wahrscheinlich, weil es absolut nutzlos ist. Eine Laune der Natur - siehst du, ich kann nicht einmal richtig Klavier spielen!"

"Han spielt Klavier, Querflöte und Saxophon!" erklärte Kathy stolz und hielt dann inne, als sei ihr plötzlich etwas eingefallen, "Wo sind eigentlich alle?"

"Deine Mutter mußte zu einer kranken Katze. Und Hannah badet Jeremy." Er wandte sich nun - etwas unbeholfen wegen seiner Schulter - ganz zu ihr um. Kathy fand, daß er komisch aussah, wie er so dasaß mit dem Arm an den Körper gebunden und dem uralten, armygrünen Pullover ihres Bruders Timothy, der ihm viel zu groß war - Tim war Linebaker im Team seiner Uni.

"Timothy", sagte er, als hätte er ihre Gedanken erraten, "Hannah sagte, daß das seine Sachen sind, die sie mir gegeben hat. Er ist dein Bruder, nicht?"

"Ja, der älteste. Außer Hannah, natürlich. Er ist 21 und studiert Sport und An-Angelistik. Er macht ein Jahr in Europa."

"Angelistik, ja?" Alex grinste. "Und deine anderen Geschwister?"

"Naja, die Zwillinge - Luke und Toby - sind 12. Sie sind mit Dad in Seattle, da ist so ein komisches Krieg-der-Sterne-Treffen. Er hat es ihnen als Geburtstagsgeschenk versprochen. Sie sind blöd."

"Und Jeremy?"

"Miro? Oh, Miro ist mein..." Sie suchte angestrengt nach dem richtigen Wort. Wie hieß das doch gleich? Enkel? "Hannah ist seine Mutter. Deswegen bin ich seine... Tante. Und ich bin erst sechs!"

Sie wagte sich näher zu ihm und sah, daß er an dem abgegriffenen Garfield-Aufkleber kratzte, der auf der G-Taste klebte. Fred Feuerstein für F, Garfield für G... so hatte sie Notenlesen gelernt. Aber die Aufkleber waren schon alt, Hannah hatte ihr erzählt, daß ihre Mutter sie auf die Tasten geklebt hatte, als Han angefangen hatte zu spielen. Die meisten Bilder waren kaum mehr zu erkennen, so ausgeblichen waren sie. Aber sie konnte inzwischen sehr gut Noten lesen und brauchte sie nicht mehr.

"Ich habe auch mal angefangen, Klavier spielen zu lernen, weißt du?" sagte Alex plötzlich, ,"meine Mutter hat's uns beigebracht. Ich war so klein, daß ich nicht mal die Tasten sehen konnte, wenn sie mich nicht auf den Schoß nahm." Er schüttelte den Kopf, wie um eine unangenehme Erinnerung zu verscheuchen. "Aber das ist lange her. Ich habe fast alles, was sie mich gelehrt hat, vergessen. Ich hab's versucht, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Nicht richtig."

Sein Blick fiel auf die Wand über dem Klavier, die mit gerahmten Fotos tapeziert war. Alte und neue Bilder dokumentierten bunt durcheinandergewürfelt die Geschichte der Familie Askavold.

"Bist du das?" fragte er und deutete auf eine Aufnahme, die eine jüngere Hannah mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm zeigte.

"Ja, da war Miro noch gar nicht da." Sie kletterte zu ihm auf den Klavierstuhl und nahm eines der Bilder von der Wand, "Und das ist Tim bei seiner Abschlußfeier. Er hat sich zwei Wochen vorher beim Footballspielen den Kiefer gebrochen, deshalb sieht sein Gesicht so lustig aus. Ich mag das Foto, aber Timmy ärgert sich immer wieder darüber, daß gerade das hier hängt." Sie hängte das erste wieder vorsichtig an die Wand und hielt ihm ein anderes Bild hin, "Die Zwillinge, als sie noch ganz klein waren. Toby ist der mit dem Irokesenschnitt - Mom sagt immer, das sei der einzige Weg gewesen, sie als Babys auseinanderzuhalten."

Bevor sie nach einem dritten Bild greifen konnte, kam er ihr zuvor. "Und das ist auch Hannah?" fragte er, auf ein Foto zeigend, auf dem ein vielleicht neunjähriges, dunkelhaariges Mädchen mit Pagenschnitt und Zahnlücken vor dem selben Klavier saß wie sie gerade.

"Ja, das ist Han. Und das auch." Sie nahm noch ein Bild von der Wand. Es war offensichtlich um einige Jahre älter als das andere, das Mädchen - Hannah - war drei, vielleicht vier Jahre alt, trug auf Kniehöhe abgeschnittene, ausgefranste Jeans und saß mit untergeschlagenen Beinen inmitten eines Getreidefeldes. Sie grinste in die Kamera, während ein gleichaltriger Junge sich von hinten über sie beugte und ihr, die Arme um ihre Schultern geschlungen, zärtlich ins Ohrläppchen biß.

"Und der Junge?"

Uups. Kathy schwieg betroffen. Über ihn sprach man nicht. Zumindest nicht, wenn ihre Mutter im Raum war. Natürlich wußte sie, wer er war. Sie wußte sogar ziemlich gut Bescheid, Hannah hatte ihr von ihm erzählt. Sie hatte ihr auch Fotos gezeigt, Bilder aus einer Zeit, wo noch nicht einmal Tim geboren war, und auf denen ihre Mutter so jung aussah.

"Coryn." sagte sie leise, als fürchte sie sich, den magischen Namen laut auszusprechen, ,Hannahs Zwillingsbruder."

"Ich dachte, Timothy sei der Älteste?"

"Coryn ist... tot." Das letzte Wort war kaum gehaucht. Es war so schwierig, sich immer daran zu erinnern, was man darüber zu wem sagen durfte und was nicht. Ihre Mutter sprach nie über ihn, ihr Vater nur selten, wenn er eine seiner Geschichten von früher erzählte, in denen er auch manchmal vorkam - aber meistens verstummte er dann sofort, so als hätte er etwas Verbotenes gesagt. Hannah hatte versucht, ihr das zu erklären. Sie waren traurig, weil er fort war, hatte sie gesagt, und Kathy war dann eifersüchtig auf den Bruder, den sie nie gekannt hatte, und den alle so liebten, daß sie selbst nach so vielen Jahren noch traurig waren. Nur Hannah lächelte, wenn sie von ihm erzählte. Manchmal sprach sie von ihm. Aber sie nannte ihn nie Coryn - sie hatte eigene Namen für ihn, Namen, die aus der privaten Sprache von Zwillingen stammten.

Und Hannah nahm sie manchmal mit zum Friedhof, zu dem Grabstein, auf dem sein Name stand. Sie pflückten wilde Blumen am Fluß für ihn und suchten besonders schöne Kiesel, um sie auf seinen Grabstein zu legen. Hannah hatte gesagt, Fremde hätten ihn mitgenommen, als er so alt war wie sie jetzt. Sie wußte nicht, was die Männer mit ihm gemacht hatten - sie hatte sich nicht getraut, Hannah danach zu fragen, aber jetzt lag er da und war tot, wie alle anderen, die auf dem Friedhof wohnten. Wie Großvater, als er gestorben war und die Männer ihn eingegraben hatten. Hannah mochte den Friedhof. Sie ging oft hin, aber sie war nicht traurig wie die anderen, die sie dort trafen. Hannah schien nicht verstanden zu haben, daß das ein Ort war, wo man traurig sein mußte.

Kathy faßte einen Entschluß und kniete sich auf den Stuhl, um Alex das Bild aus der Hand zu nehmen und es an seinen Platz zurückzuhängen. Er sollte es nicht anfassen.

Sich auf die Fersen zurücksetzend strich sie sich erleichtert eine Strähne aus der Stirn. Das hatte sie toll gemacht.

"Sollen wir was vierhändig spielen?" fragte sie herausfordernd, ,Ich kann die Melodie spielen, wenn du willst."

Er betrachtet immer noch das Foto. Nur widerwillig riß er sich davon los, um ihr zu antworten: "Ich sagte doch, ich kann nicht besonders gut spielen."

"Das macht nichts, ich kann's dir beibringen!" bot sie mit stolz geschwellter Brust an, "Leg deine Hand auf die Tasten. Nein, weiter links. Du machst die Begleitung."

Sie legte ihre kleine Hand auf seine und spreizte die Finger, um seine zu erreichen. Die Fingerspitzen auf seinen Grundgelenken drückte sie seine Finger wie Tasten, so daß er einen Dreiklang griff. Als der Akkord erklang, lachte sie entzückt. "Siehst du, es ist ganz leicht!"


*****

 

Als Hannah mit Jeremy aus dem Bad kam - er hatte sich mal wieder gesträubt, als solle er notgeschlachtet werden, und sie hatten einen einstündigen Kampf gehabt, bis er gewaschen und trocken, und sie im Gegenzug triefend naß war - als sie also in die Küche kam, saß Kathy schon wieder am Klavier. Hannah grinste. Kathys Begeisterung würde abflauen, wenn der Reiz des Neuen erst einmal verflogen war und das Üben irgendwann unweigerlich beginnen würde, sie von Sachen abzuhalten, die sie lieber tat.

"Na, wie geht's meinem kleinen Musikgenie?"

Kathy strahlte sie an. "Ich habe mit Alex gespielt. Vierhändig - naja, dreihändig. Er konnte nicht einmal die einfachsten Akkorde, ich mußte ihm alles von Anfang an zeigen. Aber zum Schluß haben wir uns dann sogar ein Lied für dich ausgedacht - willst du's hören?"

Ohne auf eine Antwort zu warten drehte sie sich um und spielte eine einfache Melodie, die frappante Ähnlichkeit mit einem gängigen Werbejingel für Schokoladenpudding hatte.

Hannah hörte nur mit halbem Ohr zu. "Und wo ist Alex jetzt?" fragte sie, und ein flaues Gefühl beschlich ihre Magengegend.

Kathy bemerkte es nicht, sondern spielte die Melodie noch einmal von vorne und schlug mit dem Fuß den Takt dazu."Oh, er hat gesagt er muß gehen." antwortete sie, immer noch ganz auf ihr Spiel konzentriert. "Er hat gesagt, er hat etwas Dummes gemacht und jetzt sind ein paar Leute böse auf ihn. Er will das lieber in Ordnung bringen, bevor sie richtig wütend werden. Ich soll dir..." Sie runzelte die Stirn, als ginge ihr die Bedeutung der Worte erst jetzt auf, "Er hat mich umarmt und gesagt, ich soll dir einen Kuß von ihm geben. Warum will er dich küssen, Han?"

Als sie sich umwandte, stellte sie entsetzt fest, daß ihre Schwester weinte. Sie lief erschrocken zu ihr und schlang ihre Arme um sie, ganz fest, wie Alex es mit ihr gemacht hatte, und gab ihr einen Kuß auf die Wange. Sie verstand nicht, was los war. Auch Alex hatte sie ganz fest an sich gedrückt. Er hatte sie geküßt und dann eine ganze Weile einfach nur festgehalten, den Kopf an ihrer Schulter vergraben, als sei sie die Erwachsene und er ein kleines Kind. Er hatte sie gehalten und geweint, genauso, wie Hannah es jetzt tat.



 

 

Beloved son and brother

Coryn Askavold

* 1968 + 1975


 

Krycek stand vor dem Grab und starrte auf die Inschrift auf dem schlichten Granit, ohne sie wirklich zu sehen. Er hatte eine Weile gebraucht, um es zu finden, denn der Friedhof war groß, und das Grab lag am äußersten Ende an der alten Umfriedung. Die schlanken Äste einer Weide hingen bis fast auf den Stein hinunter und schützten den Strauß Margeriten, der darauf lag vor direkter Sonne. Ansonsten war das Grab recht einfach, ein Stein auf der Wiese, die Blumen darauf und eine kleine Bienenwachskerze davor. Aber die Blumen waren frisch.

Er wußte nicht so recht, was er hier eigentlich wollte. In diesem Moment hätte er schon meilenweit von hier entfernt sein sollen, schließlich war er auf der Flucht und wollte nicht, daß jemand auf die Idee kam, Sarah und ihrer Familie einen Besuch abzustatten. Aber er war neugierig gewesen, was er empfinden würde, wenn er herkam.


"Sentimental, Ky?"

Die Stimme hinter ihm klang fröhlich. Krycek lächelte, ohne sich umzusehen.

Hannah trat neben ihn.

"Du wußtest es die ganze Zeit über, nicht wahr?", fragte er, seinen Arm um ihre Schultern legend. Sie war beinahe so groß wie er. Sie lachte nur und schmiegte sich an ihn.

"War ich denn so schlecht?"

"Dummkopf, glaubst du, ich erkenne meinen Zwillingsbruder nicht, egal, was er mir vorzumachen versucht? Ich wußte, daß du eines Tages zurückkommen würdest."

Er sah sie überrascht an, "Du wußtest, daß ich lebe?"

"Ich wußte, daß du nicht gestorben bist. Das hätte ich gemerkt."

Eine Weile hielt er sich einfach an ihr fest. Es tat so gut, umarmt zu werden.

Es war Hannah, die den Moment der Intimität schließlich beendete. "Du mußt fort, nicht?" Ihre Stimme klang ruhig, sachlich.

,Ja."

"Wirst du wiederkommen?"

"Ich weiß es nicht." Er wußte ja nicht einmal, wie lange er noch leben würde, "Han, du weißt nicht, was ich geworden bin. Ich..."

"Schsch." Sie legte ihre Hand auf seine Lippen und lächelte. "Das ist nicht wichtig. Du bist Ky, mein Bruder, und nichts, was du getan hast, tust, oder tun wirst, wird daran etwas ändern."

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn noch einmal, bevor sie ihn losließ.

"Leb wohl... Alex."

 


 

ENDE.

 


 

 

 

P.S.: Ich schreibe Geschichten, weil ich gerne Geschichten schreibe, aber ich poste sie, um Feedback zu bekommen...

nicole