ECHO

Selena

 

"Er hätte nie ein Implantant werden dürfen."

Ich stehe in William Boones Haus, nur eine Woche nach seinem Tod, und das Schuldgefühl, daß ich mir in den letzten Tagen nicht gestattet habe, nicht gestatten konnte, macht sich endlich Luft und überwältigt mich. Boone hätte nie ein Implantant werden dürfen. Er war mein Freund, aber daß er sein Leben ruinierte und schließlich verlor, ist zum Teil auch meine Schuld. Dennoch bin nicht ich es, die den Gedanken ausgesprochen hat. Ich bin nicht alleine hier, und ich weiß es besser, als derartige Überlegungen in Gegenwart eines Implantanten zu äußern. Daher zucke ich zusammen, als Sandoval das ausspricht, was mir die ganze Zeit durch den Kopf geht, und starre ihn an.

Ich habe Sandoval nie besonders gemocht; er verkörpert alles, was wir bekämpfen, Menschen, die uns an die Taelons verraten. Oh, ich weiß, das CVI läßt ihm da keine große Wahl, aber er hat sich freiwillig gemeldet, im Gegensatz zu Boone. Er wollte in den Dienst der Companions treten, er wollte das verdammte Ding in seinem Kopf, und daher ist alles, was sich daraus entwickelte, auch seine eigene Schuld. Trotzdem, es gibt Augenblicke, in denen er mir leid tut. Jetzt ist keiner davon. Seit er mir von Boones Tod erzählt hat, werde ich den Verdacht nicht los, daß etwas ganz und gar nicht stimmt. Halte ich Sandoval für fähig, Boone getötet zu haben? Aber sicher. Der Mann hat Kate Boone auf dem Gewisen. Er hat seine eigene Frau in eine Irrenanstalt sperren lassen. Und er hat das klassische Motiv, Eifersucht, denn es bestand nie ein Zweifel daran, wer Da’ans bevorzugter Attaché war. Und trotzdem ist mir diese Erklärung zu einfach. Ich kann nicht vergessen, daß Boone der einzige Mensch ist, um den sich Sandoval tatsächlich bemüht hat, von diesen seltsamen Gesprächen, die ich mit anhörte, während ich die beiden in meinem Shuttle flog, bis zu Buchempfehlungen, und über allem die verquere Überzeugung, er hätte Boone mit dem Mord an dessen Frau einen Gefallen getan. Also bin ich mir einfach nicht sicher. Auf jeden Fall weiß er mehr, als er zugibt, aber wann war das je anders?

Ich bin mir auch nicht sicher, wie er seine Aussage gerade eben verstanden haben will. Es wäre zu schön, wenn es sich um Reue handelte, denn zum Glück kann ich mir sagen, daß Sandoval an Boones Implantantendasein noch größere Schuld trägt als ich. Aber wahrschein-licher ist, daß er es als Kritik meint, und implizieren will, Boone habe als Werkzeug der Taelons versagt oder zumindest nicht die nötigen Eigenschaften aufgewiesen. (Was sind die nötigen Eigenschaften? Skrupellosigkeit und die Bereitschaft, alles, aber auch alles für die Taelons zu tun?) In jedem Fall wünschte ich, er wäre nicht hier. Doch ich mußte ihn um Erlaubnis bitten. Nach Boones Tod wurde sein Haus sofort von Sicherheitskräften hermetisch abgeriegelt. Und vermutlich gründlich durchsucht, aber das ist bedeutungslos. Boone war nicht so töricht, irgend etwas herumliegen zu lassen, das ihn in Verbindung mit Doors und den Widerstand bringt, genauso wenig, wie ich es tue. Wie auch immer, die Sicherheitskräfte waren auch noch da, als ich nach der Beerdigung kam, um Boones Eigentum durchzugehen, den Hausrat aufzulösen und die Dinge zu kennzeichnen, die zu seiner Schwester nach Los Angeles geschickt werden sollen. Da ihre Befehle direkt von Zo’or gekommen waren, half mir meine hohe Sicherheitsstufe nichts, sie verwehrten mir den Eintritt, und ich mußte zu Sandoval gehen, mit dem Resultat, daß jetzt zwar das Wachpersonal fort ist, aber auch meine Chance, still und in Frieden von Boone Abschied zu nehmen. Zu trauern, etwas, zu dem mir bisher niemand Gelegenheit gab. Jetzt, wo sich die Verhältnisse wieder einigermaßen beruhigt haben, und mir Augur, ausgerechnet Augur, das Betreuen von Liam abgenommen hat, wäre die Zeit dazu. Aber wie kann ich das, mit Sandoval im Genick?

Ich weiß nicht, warum er darauf bestanden hat, mich zu begleiten. Wenn er mir mißtraut, warum hat er mich dann übernommen und nicht Boones Tod genutzt, um mich loszuwerden? Das Perverse ist, daß ich ihm dafür dankbar sein muß. Ich habe Doors weiß Gott nie für sonderlich mitfühlend gehalten, aber eine andere Reaktion auf Boones Sterben als die Frage, wer nun bei den Taelons spionieren solle, hatte ich schon erwartet. Doch wenn man Doors mit dergleichen kommt, erhält man als Antwort nur die alte Doktrin, alles, was zähle, sei die Bewegung.

Boone hat ihm einmal darauf erwidert, unsere Bewegung bestünde aus Menschen, kämpfe für Menschen, und wenn wir das Wohl des Einzelnen aus dem Auge verlören, hätte das Ganze keinen Sinn mehr. Boone war einer der wenigen guten Menschen, die ich je... verdammt. Jetzt stehe ich kurz davor, zu weinen. Ganz bestimmt nicht hier, nicht vor Sandoval. Also schaue ich mich um, suche nach etwas, daß mich zornig macht. Zorn ist mein Freund, er hat mich schon immer davor gerettet, mich gehen zu lassen. Selbst damals, als mein Bruder sich umgebracht hat.

Ich war nicht häufig in Boones Haus, und ich wette, Sandoval überhaupt nie. Es hat sich in dem Jahr zwischen Boones Rekrutierung für den Widerstand und die Taelons und seinem Tod nicht verändert. Nach wie vor ist es das Haus eines jungen Ehepaares, das bald eine Familie gründen möchte, als wäre die Zeit in dem Moment gefroren, als Kate Boone starb. In dem Schrank, den ich öffne, hängen noch immer ihre Kleider. Auf dem Schreibtisch, der im übrigen recht staubig ist, weil Boone in den letzten Monaten nur noch im Hauptquartier der Taelons oder in unserem Versteck arbeitete, stehen eingetrocknete Pflanzen in handbemalten Töpfen, und die Photos. Sandoval nimmt eines auf, und ich muß mich beherrschen, um es ihm nicht aus der Hand zu schlagen. Da. Zorn. Es funktioniert immer. Keine Gefahr mehr, in Tränen auszubrechen. Auf dem Photo sind Boones Schwester Sarah und seine Frau Kate zu sehen. Sarah befindet sich derzeit in einer Klinik, deswegen konnte sie auch nicht zu der Beerdigung kommen, oder sich selbst um die Auflösung von Boones Besitz kümmern. Auf die Nachricht vom Tod ihres Bruders, so kurz nach ihrer Fehlgeburt, hat sie mit einem Nervenzusammenbruch reagiert. Und wem hat sie die Fehlgeburt zu verdanken, wie überhaupt die ganze verdammte Schwangerschaft? Den Taelons. Was Kate angeht...

"Er wäre nie ein Implantant geworden, wenn seine Frau am Leben geblieben wäre", sage ich hart, weil ich Sandoval zumindest verbal angreifen möchte, und wünschte im gleichen Moment, ich hätte nicht gesprochen. Es bringt das Schuldgefühl zurück, denn ich weiß nur zu genau, daß es nur ein Teil der Wahrheit ist. Boones Schicksal war in dem Moment besiegelt, als er Da’ans Aufmerksamkeit erregte, und das wäre nie der Fall gewesen, wenn der Widerstand nicht einen Attentatsversuch auf Da’an und Doors’ angeblichen Tod inszeniert hätte. Und danach wollten ihn nicht nur die Taelons, auch wir wollten ihn mit der gleichen Unbedingtheit. Doors’ Instruktionen waren eindeutig. Wir sollten alles, aber auch alles tun, um ihn dazu zu bewegen, Da’ans zweiter Implantant zu werden. Ich werde nie vergessen, wie Eddie protestierte, er könne Kate Boone nichts tun, er sei bei ihrer Hochzeit dabei gewesen. Er brauchte nichts tun. Sandoval kam ihm zuvor.

Wenn ich zurückdenke, wird mir klar, daß nicht nur Doors den Einzelnen zugunsten der Menschheit aus dem Auge verloren hat. Ich war genau auf dem gleichen Weg, und es war Boone, der mich zurückholte. Boone, der das Leben so hoch achtete, daß er sogar Zo’or rettete.

"Nein", sagt Sandoval mit seiner üblichen unbewegten Miene, stellt das Photo wieder auf den Schreibtisch zurück und starrt an mir vorbei an die Wand, wo ein weiterer Beweis von Kate Boones künstlerischen Fähigkeiten hängt. Allerdings bezweifle ich, daß er das Aquarell überhaupt wahrnimmt. Er hat diesen Ausdruck in den Augen, den ich von Boone kenne, wenn Boone sich in seinen CVI-verstärkten Erinnerungen verlor. Boone hat einmal versucht, mir die Perfektion, die völlige Klarheit einer solchen Erinnerung zu beschreiben, den Zusammenklang von audivisuellen Eindrücken mit dem Geruchs- und Tastsinn, und mich schauderte, obwohl er es wohl positiv meinte. Ich kann meine eigenen, normalen Erinnerungen oft nicht ertragen; die perfekte Gegenwärtigkeit der Menschen, die ich verloren habe, gekoppelt mit dem Bewußtsein ihres Todes... ich glaube, ich würde verrückt.

Abrupt wende ich mich von Sandoval ab und fange an, Boones Bücher durchzugehen. Bücher, festgebundene Bücher, sind etwas Altmodisches. Sie kleben aneinander, als habe sie lange niemand mehr gelesen, was mich nicht wundert; Boone verbrachte kaum noch Zeit hier, und mit Hilfe seines CVIs konnte er Texte auf dem Computer unendlich schneller absorbieren. Plötzlich frage ich mich, ob er früher gerne gelesen hat, nicht der Information halber, nur zum Vergnügen, und wenn ja, was. Wir haben nie darüber gesprochen. Es gibt so vieles, über das wir nie gesprochen haben.

Ziellos blättere ich in einem der Bände, lese hier eine Zeile, dort einen ganze Strophe, denn es handelt sich um einen Gedichtband. Da fällt mir etwas auf. Ich habe diese Worte erst unlängst gehört. Ich kenne diesen Text. Einen Moment lang brauche ich noch, dann fällt es mir wieder ein. Das Gedicht hat Sandoval auf Boones Beerdigung zitiert. Hymm to Proserpine. Teile daraus zumindest. Ich kannte es vorher nicht, aber jetzt, wo ich den gesamten Text, der viel länger ist als das, was er vortrug, vor mir sehe, fallen mir Fragmente ins Auge, die mich treffen wie die Erinnerungen, vor denen ich davon laufe. Time and the Gods are at strife....But love grows bitter with treason, and laurel outlives not May... For the glass of the years is brittle wherein we gaze for a span; A little soul for a little bears up the corpse which is man. So long I endure, no longer, and laugh not again, neither weep. For there is no God found stronger than death, and death is sleep.

Ich habe Boone nie weinen gesehen, und auch nur selten lachen; manchmal hatte ich Angst, daß die Maske des perfekten Implantanten, die er zur Schau tragen mußte, irgendwann die Wirklichkeit sein würde. Er hatte mich gebeten, ihn zu töten, falls er je ein Implantant mit voll funktionierendem CVI würde. Ich wußte nie, ob ich es fertig bringen würde, und die Furcht, auf die Probe gestellt zu werden, wuchs mit jedem Mal, wenn ich ihn versunken in einer dieser perfekten Erinnerungen erlebte.

Hastig klappe ich das Buch zu und will es in das Regal zurückstellen, aber meine Finger zittern, und es fällt auf den Boden. Sandoval dreht sich zu mir um, und ehe ich es tun kann, bückt er sich und hebt es auf. Als er es mir zurückgibt, fällt mir der Ehering am kleinen Finger seiner rechten Hand auf. Es ist nicht sein Ring, es ist der seiner Frau, die ihn Boone gegeben hatte, damit wir Sandoval vortäuschen konnten, sie sei tot. Von Boone getötet, so wie Sandoval Kate töten hatte lassen. Das war einer der wenigen Augenblicke, in denen Sandoval mir leid tat. Sein eigenes CVI war zusammengebrochen, alles, woran er denken konnte, war, seine Frau in Sicherheit zu bringen. Er war damals bereit, zu sterben, und es war Boone, der dafür sorgte, daß Sandoval überlebte, dank eines neuen, voll funktionierenden CVIs. Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob Boone dabei von Humanität oder Rache motiviert wurde. Als ich ihn fragte, "Würden Sie so leben wollen?" bekam ich keine Antwort. Boone war ein guter Mensch, aber kein Heiliger, und wenn er wollte, daß Sandoval, statt zu sterben, in der gleichen Hölle weiter lebte, die er für Boone mit geschaffen hatte, dann könnte ich das begreifen.

Jetzt wirft er einen Blick auf das Buch, das er mir gibt, und tut etwas Unerwartetes; er erstarrt und hält es fest. Einen Moment lang stehen wir so da, beide mit einer Hand um einen altmodischen Festeinband geschlungen, dann sage ich, mehr, um dem Augenblick zu entkommen, als aus einem anderen Grund: "Wenn Sie es möchten, können Sie es gerne behalten, aber ich dachte, bei Ihrem Gedächtnis bräuchten Sie nichts mehr nachzuschlagen, was Sie einmal gelesen haben."

"In der Tat", sagt er, läßt das Buch los und tritt einen Schritt zurück. "Nein danke, Captain, stellen Sie es zurück."

Er wirkt... verlegen, und das ist mehr als ungewöhnlich. Abgesehen von der Episode mit dem CVI-Zusammenbruch habe ich Sandoval fast nur in zwei Varianten erlebt; geübt ausdruckslos, und aufgebracht, dann, wenn etwas nicht so lief, wie er wollte, wenn er mit Boone stritt, oder wenn ein Taelon in Gefahr war. Verlegen eigentlich nur einmal, als Siobhan Beckett in Irland deutlich machte, daß sie an ihm interessiert ist. Der Gedanke an Beckett bringt mich auf etwas anderes. Sie ist eine Implantantin, und man kann ihr vieles vorwerfen, aber gewiß nicht Emotionslosigkeit. Wir wissen einfach zu wenig über die genaue Wirkungsweise der CVIs. Anfangs ging ich davon aus, Sandoval sei die Norm, und nur durch Dr. Belmans Justierungen würde Boone davor bewahrt, sich in einen ähnlichen eiskalten Funktionsträger zu verwandeln. Nachdem ich Beckett kennenlernte, habe ich begonnen, daran zu zweifeln. Vielleicht spielen der ursprüngliche Charakter und der eigene Wille eine größere Rolle dabei, wie sich ein Implantant entwickelt, als wir alle dachten. Vielleicht war es Boone, der Boone gerettet hat.

"Sind Sie sicher?" hake ich nach, und lasse Sandoval nicht aus den Augen. Wenn ich es recht bedenke, gibt es auch bei ihm einiges, das nicht in das Schema des menschlichen Roboters paßt. Warum zum Beispiel trägt er diesen Ring noch? Die Parteinahme für Zo’or und gegen Da’an in den letzten Wochen, das ist zwar nichts Positives, aber doch etwas, zu dem er nicht imstande sein sollte, bei einem Motivationsimperativ, der ihm befiehlt, allen Taelons zu dienen und sie zu schützen. Und Beckett - bisher ist er auf ihre Annäherungsversuche zwar nicht eingegangen, aber er ist besorgt um sie. Was das ganze vertrackte Verhältnis zu Boone angeht...

"Sie könnten es als Erinnerung behalten. Ich glaube, Sarah Boone hätte nichts dagegen... und er auch nicht."

Wenn Sarah sich wieder einigermaßen erholt hat, wird sie mutmaßlich sehr wohl etwas dagegen haben, aber mir kommt es jetzt einfach auf Sandovals Reaktion an.

"Unter den gegebenen Umständen, Captain", erwidert er, und mit etwas, daß sich anfühlt wie Enttäuschung, stelle ich fest, daß die übliche Maske wieder an ihrem Platz ist, "halte ich es nicht für angemessen. Im übrigen belastet Besitz nur unnötig."

Achselzuckend stelle ich den Gedichtband in das Regal zurück, dem ich es entnommen habe. Als ich in das nächste Zimmer gehe, drehe ich mich noch einmal um, und stelle fest, daß Sandoval wieder auf eines der Bilder an der Wand starrt. Ich kann nicht mehr erkennen, ob er es wirklich sieht oder wieder in irgend welchen Erinnerungen versinkt, aber gerade, als ich mich für das letztere entscheide, höre ich ihn flüstern. Es ist der gleiche Satz, der, der mich verfolgt, seit er mir gesagt hat, Boone sei tot, und den ich immer noch nicht ausgesprochen habe.

"Er hätte nie ein Implantant werden dürfen."