Inhaltsangabe: Miss Parker greift zu verzweifelten Maßnahmen, und dadurch nimmt nicht nur ihr Leben eine unerwartete Wendung...

Charaktere: Miss Parker, Jarod, Catherine Parker, Major Charles, Raines, Mr. Parker, Broots, Angelo, Sydney

***
Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie "The Pretender" gehören nicht mir, sondern MTM, TNT, Fox und NBC Television. Ich habe sie mir nur ausgeliehen. Alle anderen Charaktere sind mein 'Eigentum'. Diese Story wurde nur zu meinem Vergnügen und dem anderer Fans geschrieben und veröffentlicht. Ich verfolge damit keinerlei finanzielle Interessen irgendeiner Art.

Spoiler: Bis in die dritte Staffel. Dazu ein paar Worte... Als Pretender-Junkie halte ich mich auf dem laufenden und kann auch dem kleinsten Spoiler nicht widerstehen. Bei dieser Geschichte habe ich mich aber nicht streng an die Ereignisse der dritten Staffel gehalten, sondern manches weggelassen und einiges dazu erfunden. Aber wenn ich mit den Entwicklungen dieser Staffel hundertprozentig zufrieden wäre, würde ich ja keine Fanfic schreiben...

Zur Story: Eine kleine "Was wäre wenn"-Geschichte. Miss Parker greift zu verzweifelten Maßnahmen, und dadurch nimmt nicht nur ihr Leben eine unerwartete Wendung...

Kontakt: Missbit@web.de

Fragen, Anregungen, Kritik, Lob,... Immer her damit! Ich freue mich über jede Art von Reaktion - na ja, *fast* jede... ;o) Bitte laßt mich einfach wissen, wie Euch die Geschichte gefallen hat!

Und jetzt: Viel Spaß beim Lesen!

 


Einsichten - Teil 1
Von Miss Bit

 



Prolog
SL-22
Das Centre
Blue Cove, Delaware
23:45


Eine unheimliche Kombination von Geräuschen erklang in dem dunklen Korridor, der zu einem Raum führte, den Lyle gerne als Halle der Wahrheit bezeichnete. Zuerst war ein leises, aber beständiges Quietschen zu hören, wie von einer selten benutzten, schlecht geölten Tür. Dann gesellte sich ein unregelmäßiges, keuchendes Atemgeräusch hinzu.

Mr. Raines schleppte sich mit der für ihn typischen behäbigen Geschwindigkeit durch den Flur, bis er den Raum mit der Bezeichnung SL-22-157 erreicht hatte. Er preßte seine Hand auf eine unscheinbare Fläche neben der Tür, die daraufhin geräuschlos zur Seite glitt.

Mr. Lyle verließ sein Versteck. Es war nicht nötig, Raines zu folgen - er hatte andere Möglichkeiten, um herauszufinden, was auf der anderen Seite der Tür vor sich ging. Ein paar Türen weiter befand sich ein kleiner Raum, der früher einmal als Aufenthaltsraum für Raines Sweeper gedient hatte. Dort hatte Lyle seine Ausrüstung aufgebaut, die es ihm erlaubte, alles zu verfolgen, was in der Halle der Wahrheit passierte.

Die Halle war Raines private Folterkammer, und Lyle hatte keinen Zweifel daran, daß Jarods erster Weg ihn dorthin führen würde, sobald es Miss Parker gelungen war, ihn ins Centre zurückzubringen. Aber das war nicht sein Problem. Er war aus einem ganz anderen Grund hier. Der Grund hieß Mr. Parker.

Rein zufällig hatte Lyle mitbekommen, wie die beiden sich hier verabredet hatten. Sein ausgeprägter Überlebensinstinkt ließ ihn vermuten, daß die beiden etwas planten, möglicherweise sogar gegen ihn. Diesmal wollte Lyle darauf vorbereitet sein. Er schaltete die Überwachungsgeräte ein und sah gespannt auf den Monitor.

"... ist nicht mehr als eine Gefährdung für uns alle", zischte Raines gerade wütend. Der alte Parker verzog das Gesicht - schwer zu sagen, ob verärgert oder gelangweilt.

"Sie ist immerhin meine Tochter, Raines."

Oh, es geht hier überhaupt nicht um mich, dachte Lyle einigermaßen fasziniert. Offenbar hat meine Schwester mich für den Augenblick von Raines Abschußliste verdrängt. Was für eine Verschwendung.

"Seit wann spielen Familienbindungen hier eine Rolle?"

"Ich werde meine Zustimmung nicht einfach so erteilen", donnerte Parker, jetzt eindeutig wütend. "Sie bekommt noch eine letzte Chance - dann können Sie tun, was immer Sie für richtig halten."

"Eine sehr vernünftige Entscheidung", keuchte Raines spöttisch, doch dann fuhr er ärgerlich fort. "Ihr Zögern wegen Catherines Einmischung hat uns viel Ärger eingebracht."

"Das wird nicht noch einmal passieren, dafür werde ich persönlich sorgen."

"Hoffentlich."

Raines drehte sich um und schlurfte zur Tür, während Lyle beeindruckt mit der Zunge schnalzte. Seine Schwester steckte in weitaus schlimmeren Schwierigkeiten, als er vermutet hatte. Und sie ahnte nicht das Geringste.



Sydneys Büro
Das Centre
Blue Cove, Delaware

10:21


"Hallo, Sydney. Haben Sie etwas Zeit?"

"Hallo, Miss Parker. Worum geht es denn?"

"Ich möchte Sie etwas fragen. Die Roten Akten spielen dabei eine Rolle."

"Also hat es etwas mit Jarod zu tun", schloß Sydney. Miss Parker verzog das Gesicht.

"Nein, nicht wirklich. Nur indirekt."

"Miss Parker, Sie werden schon etwas deutlicher werden müssen."

Sie beugte sich vor und sah ihm direkt in die Augen.

"Helfen Sie mir dabei, eine Simulation zu machen."



SL 7
Das Centre
Blue Cove, Delaware
10:35


"Miss Parker, das ist verrückt."

"Vielen Dank, Dr. Freud", gab sie trocken zurück.

Ihr war klar gewesen, daß Sydney die Idee überhaupt nicht mögen würde, aber das spielte für sie kaum eine Rolle. Allerdings brauchte sie seine Hilfe, um die Simulation durchzuführen.

"Sie sind kein Pretender, der Versuch wäre also sinnlos."

"Die Roten Akten sagen etwas anderes. Syd, Sie wissen so gut wie ich, daß jedes Kind, über das eine solche Akte angelegt wurde, eine besondere Fähigkeit besitzt. Alles, was ich möchte, ist herauszufinden, ob das auch für mich gilt."

Sydney schien über ihr Argument nachzudenken, dann neigte er den Kopf.

"Mal angenommen, Sie besitzen tatsächlich eine natürliche Begabung... Warum hat Raines dann nie versucht, das auszunutzen?"

"Vielleicht hat meine Mutter mich beschützt. Vielleicht erschienen die Talente der anderen Kinder auch einfach nur lohnenswerter. Wer weiß schon, was in seinem kranken Hirn vor sich geht? Fragen Sie ihn, nicht mich." Miss Parker zögerte kurz. Als sie weitersprach, nahm ihre Stimme einen drängenden Ton an. "Kommen Sie schon, Sydney. Ich möchte doch nur Gewißheit haben. Eine einzige Simulation. Dabei kann doch nicht viel schiefgehen, oder? Es ist ja nicht so, daß sie ein Kind ausnutzen, das nicht ahnt, was es da tut. Ich habe mich aus freien Stücken dazu entschieden."

An Sydneys Reaktion erkannte sie, daß sie mit ihrer Argumentation ins Schwarze getroffen hatte. Ihn plagten noch immer Schuldgefühle wegen Jarod. Es dauerte lange, bis er schließlich antwortete. Er klang resigniert.

"Sie haben gefragt, was schiefgehen kann. Nicht viel, wenn Sie kein Pretender sind. Sollten Sie aber wirklich die Gabe besitzen, kann das hier sehr gefährlich werden. Ich kann Sie vielleicht nicht beschützen."

Sie ging zu ihm und legte ihm kurz die Hand auf die Schulter.

"Schon gut, Sydney. Ich trage das Risiko. Was auch immer passiert - Sie trifft keine Schuld. Oh, und noch etwas. Ich habe nichts dagegen, wenn die Kameras eingeschaltet sind, aber außer Ihnen soll niemand etwas davon erfahren. Raines macht mir das Leben auch so schon schwer genug."

Sydney nickte und ging zu einem der Schränke, die in dem Simulationsraum standen. Nachdem er ihn geöffnet hatte, betrachtete er eine Weile den Inhalt, um dann eine Diskette herauszunehmen. Zögernd ging er damit zurück zu Miss Parker. Neugierig sah sie auf den Datenträger in seiner Hand.

"Was ist das?" wollte sie von ihm wissen.

"Eine Simulation, die die Regierung bei uns in Auftrag gegeben hat. Das... Problem hat sich allerdings von selbst gelöst, bevor Jarod die Gelegenheit hatte, daran zu arbeiten. Deshalb hat er die Diskette bei seiner Flucht wohl auch zurückgelassen. Für eine erste Simulation ist sie zwar nur bedingt geeignet..."

"Lassen Sie uns anfangen."

"Miss Parker!" Sie sah ihn überrascht an, als sie den wütenden Unterton in seiner Stimme hörte. Normalerweise blieb er immer ruhig, selbst wenn sie versuchte, ihn zu reizen. "Das hier ist kein Spiel! Selbst Jarod hat einige Vorbereitungszeit und ein spezielles Training gebraucht, bevor er angefangen hat, Situationen zu simulieren. Das hier ist Wahnsinn."

"Sydney, ich weiß das. Aber mir läuft die Zeit davon. Wie lange, glauben Sie, wird das Centre noch dabei zusehen, wie Jarod uns immer wieder entwischt? Ungewöhnliche Situationen erfordern eben ungewöhnliche Methoden."

Sydney sah sie lange an, ehe er nachgab.

"Bevor wir anfangen, gibt es noch einige Regeln, die Sie unbedingt beachten müssen. Hören Sie mir jetzt gut zu..."



SL 7
Das Centre
Blue Cove, Delaware
15:13


"Was sehen Sie?"

"Da sind... mehrere Autos hinter mir. Es ist die Polizei!"

"Was denken Sie?"

"Ich... ich weiß nicht. Ich habe Angst..."

"Miss Parker, konzentrieren Sie sich! Was denken Sie?"

Sie befand sich mitten in einer Simulation. Die Situation war ihr denkbar einfach erschienen, dennoch bereitete sie ihr jetzt erhebliche Probleme. Es ging um Ruth Stiller, eine junge Frau, die vor beinahe zwanzig Jahren eine Bank überfallen hatte und dann mit der Beute quer durch drei Staaten geflohen war. Offenbar war der Überfall mehr eine spontane Idee gewesen, was die Flucht erschwert hatte.

"Was denken Sie?"

Sydneys Stimme riß sie aus ihren Gedanken. Miss Parker versuchte, sich auf Ruth einzulassen, sich in ihre Situation einzufühlen so gut sie konnte, aber sie sträubte sich noch immer dagegen, sich zu öffnen.

"Ich beginne, mir Vorwürfe zu machen. Gleichzeitig versuche ich fieberhaft, mir etwas einfallen zu lassen, wie ich wieder hier rauskomme. Die Polizeiautos kommen immer näher! Ich gerate in Panik. Ich muß hier raus. Im Auto bin ich nicht länger sicher."

"Was tun Sie als nächstes?"

Nachdem Ruth das Auto verlassen hatte, war sie in ein kleines Restaurant gerannt, wo sie mehrere Geiseln genommen hatte. Sie benutzte dazu die Waffe, die sie dem uralten Wachmann in der Bank abgenommen hatte. Nach und nach war es der Polizei gelungen, sie dazu zu überreden, alle bis auf zwei Geiseln gehen zu lassen.

"Wieso lassen Sie die letzten beiden Geiseln nicht auch gehen?"

"Ich brauche sie noch. Was hindert die Polizei denn, mich zu erschießen, wenn ich sie auch noch gehen lasse? Sie müssen bleiben, aber ich werde ihnen nichts tun."

"Wieso glauben Sie, daß die Polizei Sie erschießen wird, wenn Sie alle Geiseln gehen lassen?"

"Es... es ist nur ein Gefühl."

"Miss Parker, Sie müssen sich konzentrieren."

"Verdammt, Sydney, ich bin konzentriert! Das ist es, was ich in diesem Moment fühle - was sie empfunden hat."

Innerlich fragte sie sich, ob dem wirklich so war. Vielleicht war es nur das, von dem sie glaubte, daß Ruth es gefühlt haben mußte. Sie bemühte sich, tief und gleichmäßig zu atmen, so wie Sydney es ihr gezeigt hatte. Wenn es ihr nicht gelang, die letzte Sperre in sich zu lösen, konnte sie keinen Zugang zu Ruth finden.

"Was passiert jetzt?"

Sie griff nach den beiden Beuteln, die denen ähnelten, in denen Ruth ihre Beute transportiert hatte. Ihr Blick glitt wie von selbst zu dem großen Spiegel hinter dem Tresen. Etwas Blaues blitzte kurz darin auf - und dann verlor Miss Parker plötzlich die Kontrolle über sich. Für einen Sekundenbruchteil hörte sie auf, sie selbst zu sein und wurde zu Ruth. Sie sah, was sie gesehen hatte, fühlte, was sie gefühlte hatte, wußte, was sie gewußt hatte.

Eine unglaubliche Panik bemächtigte sich ihrer. Von ihrer inneren Stimme getrieben sah sie in einen der Beutel, und statt Geld sah sie Dokumente darin. Wieso hatte man ihr das gegeben? Sie hatte doch den Tresorinhalt verlangt...

Plötzlich zerriß ein Schuß die Stille. Eine der Geiseln schrie auf. Die andere Geisel war leblos in sich zusammengesackt, getroffen von einem tödlichen Schuß. Fassungslos starrte Ruth auf ihre Waffe. Dann flog die Tür auf, und bewaffnete Polizisten stürmten das Restaurant. Ruth wußte, was jetzt passieren würde - sie hatte es die ganze Zeit geahnt. Sie schrie, als die ersten Kugeln sie trafen, bis ein Schuß in den Kopf sie für immer zum Schweigen brachte.



Miss Parker schrie und schrie. Sydney kniete hilflos neben ihr am Boden und versuchte, sie zu beruhigen. Verdammt, er hätte es kommen sehen sollen! Sie hatte auf seine letzten Fragen nicht reagiert, dann hatte sich ihre gesamte Haltung plötzlich verändert. Fassungslos hatte Sydney dasselbe Wunder beobachtet, das er auch schon bei Jarod gesehen hatte, doch dann war alles anders gelaufen, als er es erwartet hatte.

Zunächst hatte es ohnehin nicht so ausgesehen, als würde sich Miss Parker auf die Simulation einlassen. Sicher, sie hatte es versucht, aber sie konnte ihre Distanz einfach nicht aufgeben. Sydney hatte damit gerechnet. Doch jetzt sah es fast so aus, als sei sie wirklich ein Pretender.

"Miss Parker!"

Er mußte so schnell wie möglich zu ihr durchdringen, sonst verlor er sie womöglich. Auch mit Jarod war ihm das zweimal beinahe passiert. Miss Parker hatte sich zu sehr auf die Simulation eingelassen und hatte jetzt Schwierigkeiten, in die Realität zurückzufinden. Sydney mußte schnell handeln, sonst nahm sie vielleicht ernsthaften Schaden.

"Miss Parker, hören Sie auf meine Stimme. Es ist vorbei. Beruhigen Sie sich."

Besorgt sah er, daß seine Bemühungen um sie erfolglos blieben. Angst erfaßte ihn. Er faßte sie an den Schultern.

"Miss Parker!"

Während er ihren Namen schrie, schüttelte er sie leicht, dann etwas stärker, bis ihm plötzlich bewußt wurde, daß sie nicht mehr schrie.

"Syd..."

Ihre Stimme klang rauh durch die Überbeanspruchung und zitterte ein wenig.

"Miss Parker, Gott sei Dank", sagte Sydney erleichtert und zog sie kurz in seine Arme. Dann ließ er sie los und betrachtete sie eingehend. "Wie fühlen Sie sich?"

"Reif für den Psychiater, würde ich sagen", meinte sie mit dem Hauch eines Lächelns.

Er grinste, wurde aber schnell wieder ernst.

"Was ist passiert?"

"Syd, es war unglaublich. Für einen Moment, ganz kurz, war ich Ruth. Ich meine, ich habe mich nicht nur so gefühlt, als wäre ich sie - ich war es wirklich."

"Mhm, es sieht fast so aus, als hätten Sie wirklich das Pretender-Gen in sich."

Miss Parker stieß die Luft aus, und Sydney wurde plötzlich klar, daß sie nicht wirklich damit gerechnet hatte. Sie schüttelte leicht den Kopf, dann verengten sich ihre Augen plötzlich.

"Sie haben sie umgebracht!"

"Wen?" fragte Sydney überrascht.

"Ruth natürlich. Gott, Sydney, das arme Mädchen."

Er sah sie verblüfft an. Ihre Mitleidsbekundung überraschte ihn mindestens ebenso sehr wie die Information, die sie ihm gerade geliefert hatte.

"Wer hat sie umgebracht?"

"Das FBI. Kein Wunder, daß die Regierung plötzlich nicht mehr wollte, daß die Simulation durchgeführt wird. Als ich in den Spiegel gesehen habe, konnte ich etwas Blaues sehen - eine FBI-Jacke. In den Beuteln mit der Beute befand sich überhaupt kein Geld, sondern Dokumente. Auf einigen befand sich ein Stempel des FBI. Natürlich, wo sollten brisante Dokumente sicherer sein als in den Schließfächern irgendeiner Provinzbank, die nur ein Idiot überfallen würde?"

"Und als Ruth den Kassierer aufgefordert hat, ihr den Inhalt des Tresors zu geben..."

"... hat er ihr die Dokumente gegeben, richtig. Bestimmt hat er nicht einmal gewußt, was er da weitergibt. Die Geisel wurde nicht von Ruth erschossen, sondern von einem Scharfschützen des FBI. Die wußten doch genau, wie die Polizei auf eine tote Geisel reagieren würde."

"Von uns wollte die Regierung also nur wissen, ob Ruth gewußt hat, was sie getan hat, ob jemand sie engagiert hatte."

"Sie müssen ihren Irrtum selbst bemerkt haben und haben dann natürlich alles versucht, um ihn zu vertuschen. Und das alles nur wegen ein paar Dokumenten. Irgendwie erinnert mich das ans Centre."

Miss Parker seufzte, und Sydney verstand sie nur zu gut. Er reichte ihr die Hand.

"Kommen Sie, wir gehen besser wieder nach oben, bevor uns jemand vermißt."



Sydneys Büro
Das Centre
Blue Cove, Delaware
16:44


Miss Parker saß auf der Couch in Sydneys Büro und versuchte, ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. Die Erlebnisse im Simulationsraum hatten sie aufgewühlt. Sie spürte, daß eine Veränderung bevorstand. Als sie aufsah, begegnete sie Sydneys Blick, der hinter seinem Schreibtisch saß und sie aufmerksam musterte.

"Wie fühlen Sie sich, Miss Parker?"

"Immer der Psychiater, was?" fragte sie, froh, daß er sich wirklich um sie zu sorgen schien. Aber sie brauchte noch einen Moment, um ihre Erfahrungen zu verarbeiten. Also beschloß sie, Sydney für eine Weile mit seinem Lieblingsthema abzulenken. "War die Arbeit mit Jarod auch so... ungewöhnlich?"

Natürlich durchschaute er ihr Manöver, ging aber trotzdem darauf ein. Sein Stirnrunzeln verriet ihr, daß er mit den Gedanken nicht wirklich bei Jarod war, als er ihr antwortete.

"Ja, das war sie. Allerdings habe ich nur selten erlebt, daß er so stark auf eine Simulation reagiert hat wie sie vorhin. Das ist eigentlich nur vorgekommen, wenn ihn die Simulation an seine eigene Situation erinnert hat."

Miss Parker wölbte belustigt die Brauen.

"Ich habe nicht vor, eine Bank zu überfallen oder Geiseln zu nehmen."

"Das habe ich auch nicht gesagt. Miss Parker, Sie sollten wirklich mit mir darüber reden. Es handelt sich um ein einschneidendes Erlebnis, das einiges in Ihrem Leben verändern könnte. Ich..."

Ein leises Klopfen unterbrach ihn. Verärgert drehte er sich zur Tür um.

"Ja?"

Die Tür öffnete sich, und Lyle kam herein.

"Ah, da sind Sie ja. Hallo, Schwesterchen. Warum so gereizt, Sydney?"

"Ich bin nicht gereizt. Kann ich irgend etwas für Sie tun?"

Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, daß er Lyle als unerwünschte Störung betrachtete. Miss Parker unterdrückte ein Lächeln.

"Ich suche euch beide schon eine Weile. Broots sucht Sie, Sydney. Und Dad möchte uns sehen, Parker."

Sie tauschte einen langen Blick mit Sydney und stand dann auf.

"Wir führen unsere Unterhaltung später weiter, in Ordnung, Sydney?"

Er nickte langsam.

"Na schön, aber vergessen Sie es nicht."

"Das werde ich nicht", versprach sie. "Vielen Dank für Ihre Hilfe."

"Gern geschehen, Miss Parker."

Wenn er überrascht war, so ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Sie lächelte ihn warm an und verließ dann hinter Lyle sein Büro.



Technikraum
Das Centre
Blue Cove, Delaware
19:07


Miss Parker betrat den kleinen Raum, der ihr und ihrem Team in den letzten zweieinhalb Jahren als Treffpunkt und Hauptquartier für die Suche nach Jarod gedient hatte. Broots saß konzentriert vor seinem Computerbildschirm und sah sich nur kurz um, als er sie kommen hörte. Sydney lächelte, als er sie sah.

"Ah, Miss Parker. Das war aber ein langes Gespräch."

"Nein, Daddy hat sich ziemlich kurz gefaßt, aber ich hatte noch etwas anderes zu erledigen. Irgendwas Neues, Broots?"

Der Techniker zuckte zusammen, als sie ihn ansprach. Sie schüttelte leicht den Kopf.

"Nein, Miss Parker. Bisher hat Jarod nichts von sich hören lassen, und wir haben keine Spur von ihm."

"Na gut, machen Sie weiter. Da nichts Dringendes mehr anliegt, werde ich jetzt nach Hause fahren."

Sydney sah aus, als wollte er etwas sagen, doch dann überlegte er es sich anders und nickte nur.

"Gute Nacht, Miss Parker. Bis morgen."

"Nacht, Syd, Broots."

Fast widerstrebend verließ Miss Parker den Raum und wünschte, sie könnte wenigstens Sydney in ihre Pläne einweihen.



Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
23:11


Zum letzten Mal überprüfte sie ihre Tasche. Als sie sicher war, daß sie nichts vergessen hatte, sah sie sich ein letztes Mal in ihrem Haus um. Schließlich griff sie nach der Reisetasche und ging nach draußen. Sorgfältig schloß sie die Tür ab, bevor sie in ihren Wagen stieg und sich auf den langen Weg zum Flughafen machte.

Während der Fahrt kreisten ihre Gedanken um die Ereignisse dieses Tages. Am meisten beschäftigte sie aber das Gespräch, das sie mit ihrem Vater geführt hatte. Es war nicht das, was er gesagt hatte, sondern was sie in seinem Büro gesehen hatte, das ihre Aufmerksamkeit fesselte.

Als sie und Lyle das Büro betreten hatten, war ihr Vater offenbar mit etwas beschäftigt gewesen. Sobald er sie bemerkt hatte, hatte er die Akte auf dem Schreibtisch geschlossen. Allerdings hatte er ein einzelnes Dokument vergessen. Miss Parker hatte einen kurzen, aber aufschlußreichen Blick darauf werfen können, bevor ihr Vater sich auch darum gekümmert hatte.

Das Dokument stammte aus dem Tower und unterlag der allerhöchsten Geheimhaltungsstufe. Sie hatte dem Blatt nur zwei Informationen entnehmen können, aber das genügte völlig. Es handelte sich um einen Namen und ein Land. Offenbar war es dem Centre gelungen, Jarods Vater in England ausfindig zu machen.

Trotz ihres Versprechens, die Sache ruhen zu lassen, plante sie jetzt nach Großbritannien zu reisen. Allerdings war sie nicht länger auf Rache aus. Alles, was sie wollte, waren ein paar Antworten, und die würde sie gewiß nicht von einem Toten bekommen.



Heathrow Flughafen
London, England
Am nächsten Tag
13:25


Miss Parker streckte sich ausgiebig, nachdem sie das Flugzeug endlich verlassen hatte. Zu ihrer Überraschung präsentierte sich das englische Wetter von seiner besten Seite und begrüßte sie mit strahlendem Sonnenschein. Ihre Stimmung besserte sich schlagartig. Großzügig ließ sie alle Formalitäten über sich ergehen, dann rief sie sich ein Taxi und ließ sich in ihr Hotel bringen. Sie hatte einigen Schlaf nachzuholen, bevor sie mit ihren Nachforschungen beginnen konnte.



Hotelzimmer
Vier Jahreszeiten
London, England
16:35


Die Klimaanlage summte leise, während Miss Parker auf ihrem Bett lag und an die Decke starrte. Hin und wieder fielen ihr die Augen zu, aber sie öffnete sie jedesmal wieder nach ein paar Sekunden. Auf keinen Fall wollte sie riskieren, noch einmal einzuschlafen.

Die Erinnerung an ihren Alptraum, aus dem sie schweißgebadet aufgewacht war, war noch immer sehr lebendig. Sie hatte von Ruth geträumt. Was sie daran am meisten beunruhigte, war, daß ihr Traum nichts mit der Simulation zu tun gehabt hatte. In ihrem Traum hatte sie Dinge gesehen, die eindeutig nur von Ruth Stiller stammen konnten. Wie war das möglich?

Direkt nach dem Aufwachen hatte sie eine Weile gebraucht, um in die Realität zurückzufinden. Diese Erfahrung war einigermaßen beängstigend gewesen, und sie konnte darauf verzichten, sie zu wiederholen.

Nach einem kurzen Aufenthalt unter der Dusche hatte sie sich angezogen und wieder aufs Bett gelegt, versunken in ihre Überlegungen. Mittlerweile bereute sie, daß sie keine weitere Gelegenheit gehabt hatte, mit Sydney über die Simulation zu reden. So wie es aussah, mußte sie allein mit den Auswirkungen fertig werden.

Miss Parker warf einen Blick auf die Uhr, dann verzog sie ärgerlich das Gesicht. Sie mußte mit diesen Grübeleien aufhören. Es war absolut sinnlos, auf diese Weise ihre Zeit zu verschwenden. Entschlossen stand sie auf und ging zum Tisch, wo ihr Laptop stand. Mit einem kurzen Blick vergewisserte sie sich, daß der glänzende Metallkoffer mit den DSA's noch neben dem Schrank stand. Ein leichtes Lächeln spielte für einen Moment um ihre Lippen. Im Centre würde man sicher nicht begeistert sein, daß sie ihn mitgenommen hatte, aber das war schließlich nicht ihr Problem.

Ein wenig ruhiger setzte sie sich an den Tisch und schaltete den Computer ein. Wenn sie dem Centre zuvorkommen wollte, mußte sie ihre Nachforschungen so schnell wie möglich erfolgreich abschließen. Wie ging Jarod immer vor?

Miss Parker schüttelte den Kopf. Sie mußte ihren eigenen Weg finden. Was auch immer sie dazu befähigt hatte, die Simulation durchzuführen, unterschied sich von Jarods Talenten, dessen war sie sich ganz sicher.



Speisesaal
Vier Jahreszeiten
London, England
20:06


Der Speisesaal des Hotels war geschmackvoll eingerichtet. Um diese Tageszeit wimmelte es hier von Gästen, aber Miss Parker war es trotzdem problemlos gelungen, einen ruhigen Tisch zu bekommen. Der Oberkellner war sowohl ihrem Charme, als auch dem großzügigen Trinkgeld erlegen, das sie ihm im Voraus gegeben hatte.

Normalerweise hätte sie es sicher genossen, die Aufmerksamkeit der meisten Männer im Saal auf sich zu ziehen, aber heute war sie viel zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt.

Die unerwarteten Probleme, die sie beim Schlafen gehabt hatte, ließen sie nicht los. Langsam wurde ihr klar, daß Sydney recht gehabt hatte. Ihr Leben veränderte sich tatsächlich - und sie veränderte sich auch.

Sydney hatte die Vermutung geäußert, daß sie das Pretender-Gen besaß. Durch die Simulation war es vielleicht aktiv geworden und ermöglichte ihr nun den Zugang zu ihren einzigartigen Talenten.

Bisher hatte sie sich oft selbst im Weg gestanden. Es war ihr immer schwergefallen, sich auf ihre Gefühle zu verlassen, aber gestern hatte sie genau das getan. Zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte sie ihre Distanz aufgegeben. Dadurch hatte sie jetzt die Chance, neue Fähigkeiten zu entwickeln. Und, so absurd es ihr auch erschien, endlich ein normales Leben zu führen.



Drei Wochen später
Technikraum
Das Centre
Blue Cove, Delaware
8:57


"Guten Morgen, Broots. Haben Sie schon etwas von Miss Parker gehört?"

Broots drehte sich zu ihm um, einen besorgten Ausdruck auf dem Gesicht.

"Morgen, Sydney. Nein, tut mir leid, immer noch nichts."

Sydney runzelte die Stirn.

"Mir gefällt das nicht. Seit drei Wochen hat sie keiner mehr gesehen oder auch nur von ihr gehört. Mr. Broots, ich glaube, es ist Zeit, daß wir etwas unternehmen."

"Uh, sicher. Aber was?"

"Wir treffen uns heute abend bei ihrem Haus. Inzwischen werde ich mal mit ihrem Vater reden."



Mr. Parkers Büro
Das Centre
Blue Cove, Delaware
9:20


"Sydney, kann ich irgend etwas für Sie tun?"

Mr. Parker sah nur kurz von seinem schweren Schreibtisch auf. Sein Tonfall machte deutlich, daß ihm nichts ferner lag, als seine Zeit mit Sydneys Anliegen zu verschwenden. Sydney fühlte einen Ärger in sich aufwallen, der normalerweise für Raines reserviert war. Er unterdrückte diese Emotion, da ihm klar war, daß er mit harschen Worten bei Mr. Parker nichts erreichen konnte.

"Ich bin eigentlich nur hier, um mich nach Ihrer Tochter zu erkundigen", antwortete er, bemüht um einen leichten Tonfall.

"Ich bin sicher, daß mit ihr alles in Ordnung ist", erwiderte Mr. Parker ruhig, aber mit einem deutlich warnenden Unterton in der Stimme. Er sah Sydney an, eine Mischung aus Kälte und Desinteresse in seinem Blick.

Er weiß auch nicht, wo sie ist, schoß es Sydney durch den Kopf. Und das ärgert ihn. Der allwissende Mr. Parker wurde von seiner eigenen Tochter hintergangen.

Der Moment der Erkenntnis wurde von einem kurzen Gefühl des Triumphs begleitet, das aber wieder verflog, als Sydneys Sorge zurückkehrte. Nur zu gerne hätte er diesem selbstgerechten, alten Narren gesagt, was er von ihm und seinen Erziehungsmethoden hielt, aber damit hätte er niemandem genutzt. Außerdem bestand die Hoffnung, daß Miss Parker sich endlich vom Centre und ihrem Vater losgesagt hatte. Wenn das stimmte, blieb Sydney nur noch die Sorge um Jarod, bevor auch er diesen Ort verlassen konnte.

"Gut. Falls Sie etwas von ihr hören, lassen Sie es mich doch bitte wissen, ja?"

"Sicher."

Damit wandte Mr. Parker seine Aufmerksamkeit wieder den Papieren auf seinem Schreibtisch zu und ließ Sydney wissen, daß er entlassen war. Sydney nickte nachdenklich und ging zur Tür. Er war ganz sicher der letzte, den Parker verständigen würde, sollte er etwas von seiner Tochter hören. Soviel dazu.



Scofield Flugplatz
Scofield, GB
10:00


Auf dem kleinen Flugfeld war nur wenig los. Miss Parker schritt zielstrebig zu einem der Hangars, wo ein Mann mittleren Alters an einer kleinen Sportmaschine herumbastelte.

Sie hielt den Atem an. Das mußte er sein. Ihre Nachforschungen hatten sie hierher gebracht. Glücklicherweise war sie dem Centre zuvorgekommen. Während sie die letzten Meter zurücklegte, nahm sie ihre Sonnenbrille ab. Zwei Meter hinter dem Mann blieb sie schließlich stehen.

"Major?"

Überrascht richtete er sich auf und stieß sich den Kopf an einer der Tragflächen.

"Au, verdammt!" fluchte er, bevor er sich umdrehte. Als sein Blick auf sie fiel, erstarrte er mitten in der Bewegung und musterte sie ungläubig.

"Wie ich sehe, haben Sie meine Mutter gekannt, Major ", sagte Miss Parker sanft, während sie ihn näher betrachtete. Er sah Jarod überhaupt nicht ähnlich. Seine Haare waren heller, das Gesicht kantiger, und die Augen strahlten in einem hellen Blauton. Sie mochte ihn sofort und wußte, daß sie ihrem Gefühl trauen konnte. Dieser Mann hatte ihre Mutter nicht getötet.

"Sie sind Catherines Tochter?"

"Ja."


"Mein Gott. Das ist so lange her..."

Der Major ließ sich auf eine Kiste sinken.

"Major, ich..."

"So hat mich schon lange keiner mehr genannt, wissen Sie", sagte er und sah mit einem leichten Lächeln zu ihr auf. Miss Parker erwiderte das Lächeln und streckte ihm ihre Hand entgegen.

"Ich bin... Marine Parker", stellte sie sich vor. Es erschien ihr einfach richtig, daß Jarods Vater ihren Namen kannte.

Er ergriff ihre Hand.

"Und ich bin Charles, aber Sie scheinen mich ja bereits zu kennen. Ihre Mutter hat mich immer Charley genannt."

"Charley..."

Sein Lächeln vertiefte sich.

"Wissen Sie, Sie klingen sogar wie sie."

"Danke", sagte Miss Parker. Sie freute sich immer, wenn ihr jemand sagte, daß sie ihrer Mutter ähnelte. "Ich habe lange nach Ihnen gesucht."

Charles nickte nachdenklich.

"Eigentlich habe ich nie damit gerechnet, Sie noch einmal wiederzusehen. Aber ich muß sagen, daß ich froh bin, daß Sie hier sind."

"Sie haben mich früher schon mal getroffen?" fragte sie erstaunt.

"Aber ja! Natürlich können Sie sich nicht mehr daran erinnern. Sie waren damals noch so klein. Das war, bevor sich alles veränderte..."

Er verstummte, und Miss Parker sah, wie die angenehmen Erinnerungen von schlechten verdrängt wurden. Kurz darauf fing er sich wieder.

"Sie haben bestimmt eine lange Fahrt hinter sich. Kommen Sie, in meinem Büro habe ich ein paar kalte Getränke."

Sie folgte ihm durch den kleinen Hangar in sein Büro. Nachdem sie sich gesetzt hatte, entschied sie sich mit Rücksicht auf ihr Magengeschwür für etwas Wasser, obwohl ihr eher nach etwas Stärkerem zumute war.

"Sagt Ihnen der Name Fenigore irgend etwas?" erkundigte sie sich nach einer Weile.

Sein Gesichtsausdruck sprach Bände.

"Allerdings. Lebt dieser Bastard etwa noch?"

Miss Parker ließ ihren Atem langsam entweichen. Offenbar hatte sie richtig vermutet, und Fenigore hatte ihre Mutter tatsächlich verraten.

"Ja, aber es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit. Das Centre hat ihn einer Gehirnwäsche unterzogen. Vorher konnte ich allerdings noch einige Informationen von ihm bekommen."

Charles schüttelte bedauernd den Kopf.

"Ihre Quelle ist leider nicht sehr verläßlich. Darf ich fragen, was er Ihnen erzählt hat?"

"Alles, was ich von ihm wissen wollte, war, wer meine Mutter erschossen hat. Er sagte, daß Jarods Vater ihr Mörder sei." Sie lächelte schwach. "Mittlerweile habe ich aber Grund, an seiner Integrität zu zweifeln."

Der Major schnaubte zustimmend.

"Er hat Ihre Mutter verraten. Genaugenommen hat er uns alle verraten. Das Centre hat ihn gekauft."

Miss Parker schwieg für einen Augenblick, dann stellte sie die Frage, die sie mehr als alles andere beschäftigte.

"Major, wissen Sie, wer meine Mutter getötet hat?"

Er sah ihr direkt in die Augen, und sein offener Blick war ihr Antwort genug.

"Es tut mir leid, nein. Als es passierte, war ich bereits nicht mehr in den Staaten. Ich schwöre Ihnen, wenn ich auch nur geahnt hätte, in welch großer Gefahr sie sich damals befand, dann wäre ich nicht gegangen. Catherine hat darauf bestanden, daß wir uns in Sicherheit bringen. Sie wollte die letzten Kinder allein retten."

Charles starrte auf den Boden. Miss Parker ging zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

"Ist schon gut. Sie hätten vermutlich auch nichts ändern können. Immerhin konnten Sie Ihr eigenes Leben retten."

Als er zu ihr aufsah, erkannte sie, daß er nur zögernd bereit war, ihren Trost zu akzeptieren. Trotzdem schien er dankbar für ihren Versuch zu sein.

"Das habe ich mir immer vorgeworfen."

"Es war nicht Ihre Schuld", versicherte ihm Miss Parker noch einmal mit Nachdruck. Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: "Sie sind nicht Jarods richtiger Vater."

"Nein. Wir - meine Frau und ich - haben ihn adoptiert, als er noch ein Baby war."

"Fenigore sagte, daß Jarods Vater meine Mutter getötet hat. Ich glaube ihm das. Kennen Sie seinen leiblichen Vater?"

Charles schüttelte den Kopf.

"Nein. Ich habe nie versucht, seinen Namen herauszufinden. Es erschien mir einfach nicht wichtig."

Miss Parker seufzte enttäuscht. Diesmal war es Charles, der seine Hand tröstend auf ihren Arm legte.

"Seien Sie nicht enttäuscht. Ich werde Ihnen helfen, so gut ich kann. Als ich von Catherines Tod erfuhr, habe ich mir geschworen, eines Tages mit ihrem Mörder abzurechnen. Es scheint, daß der Tag endlich da ist."

Dankbarkeit erfüllte sie, als sie ihn anlächelte und kurz seine Hand drückte.

"Vielen Dank, Major."

"Für Sie tue ich das gerne. Und nennen Sie mich bitte Charley. Das haben Sie als kleines Kind schließlich auch getan." Er lachte leise. "Na ja, sagen wir lieber, daß Sie es versucht haben."

Die aufrichtige Zuneigung in seinem Blick überraschte sie, erfüllte sie aber gleichzeitig mit einer Wärme, die sie lange vermißt hatte.

"Ich wünschte, ich könnte mich erinnern", sagte sie leise und mit ehrlichem Bedauern.

Charles griff in seine Hemdtasche und zog ein altes, zerknittertes Foto hervor. Mit einem erwartungsvollen Lächeln reichte er es ihr.

"Vielleicht erkennen Sie ja jemanden...", meinte er mit einem Zwinkern.

Sie nahm das Foto vorsichtig entgegen. Es war eine alte Schwarz-Weiß-Fotografie, auf der drei Personen abgebildet waren. Die Frau in der Mitte erkannte Miss Parker sofort als ihre Mutter. Der Mann rechts neben ihr mußte Charles sein, und der Mann zu ihrer Linken sah aus wie...

"Ist das Sydney?" fragte sie überrascht, doch der Major schüttelte den Kopf.

"Nein, aber Sie waren nah dran."

"Jacob", flüsterte sie. Diesmal nickte Charles.

"Er hat damals eng mit uns zusammengearbeitet. Bis dieser schreckliche Unfall passierte und er ins Koma fiel."

Miss Parker neigte den Kopf leicht zur Seite, als sie Sydneys Zwillingsbruder betrachtete.

"Er ist tot. Letztes Jahr ist er gestorben. Aber vorher ist er noch einmal kurz aus dem Koma erwacht, so daß Sydney endlich Frieden finden konnte."

Der Major nickte traurig.

"Ich weiß. Trotz meines Exils versuche ich, über die Ereignisse in den Staaten informiert zu bleiben. Besonders, wenn es dabei um alte Freunde geht."

"Wer hat das Foto gemacht?" fragte Miss Parker, um Charles ein wenig abzulenken.

"Oh, das war Fenigore. Er wollte nicht mit auf das Bild. Wenn ich jetzt so daran zurückdenke, glaube ich fast, daß er keinen Beweis dafür hinterlassen wollte, daß er mit uns in Verbindung stand", erklärte Charles, mit mehr als nur einer Spur von Bitterkeit in der Stimme.

Miss Parker sah kurz zu ihm auf, um sich zu überzeugen, daß es ihm gutging, dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Bild. Ihr besonderes Interesse galt natürlich ihrer Mutter. Anders als auf anderen Bildern, die sie von ihr gesehen hatte, haftete Catherine hier keine Aura von Traurigkeit an. Ihre Augen wirkten nicht so ernst und verzweifelt.

"Sie sieht beinahe glücklich aus", murmelte Miss Parker nachdenklich.

"Weil sie es war", versicherte Charles. "Das Foto ist im Mai entstanden."

Sie verstand sofort, worauf er hinaus wollte.

"Nach ihrem Besuch bei Ben Miller."

"Sie wissen darüber Bescheid?"

"Ja, aber ich bin ehrlich gesagt ein wenig überrascht, daß Sie es auch wissen."

Charles sah sie offen an.

"Wir hatten kaum Geheimnisse voreinander. Aber in diesem speziellen Fall wäre das sowieso kaum möglich gewesen. Der Unterschied in ihrer Stimmung, wenn sie aus Maine zurückkam, war unübersehbar. Auch wenn sie versucht hat, es zu verstecken. Wissen Sie", meinte Charles mit einem Lächeln, "wir waren fast so etwas wie die drei Musketiere. Eine solche Freundschaft findet man nicht oft im Leben."

"Ich würde gerne mehr darüber hören", erwiderte Miss Parker, mit einem beinahe schon sehnsüchtigen Tonfall in der Stimme. "Ich weiß so wenig über meine Mutter, wie sie wirklich war."

"Ich werde Ihnen gerne mehr darüber erzählen, Miss Parker. Eins kann ich Ihnen allerdings schon jetzt sagen. Sie sind ihr sehr ähnlich. Verzeihen Sie mir, wenn ich so offen bin, aber es ist gut, daß Sie nicht nach Ihrem Vater schlagen, obwohl er sie großgezogen hat."

Miss Parker zuckte unmerklich zusammen.

"Sie kennen mich doch kaum", gab sie zu bedenken.

"Aber ich besitze eine hervorragende Menschenkenntnis. Sie hat mich nur ein einziges Mal betrogen, und bei Ihnen bin ich mir ganz sicher."

"Ich danke Ihnen, Charley."

Er lächelte, als sie seinen Spitznamen benutzte.

"Wieso leisten Sie mir nicht heute Abend beim Essen Gesellschaft? Dann erzähle ich Ihnen soviel über Ihre Mutter, wie Sie hören möchten."

"Das klingt wundervoll."

"Also abgemacht. Ich erwarte Sie gegen Sieben. Meine Adresse kennen Sie ja bereits, nehme ich an", antwortete er ihr mit einem neuerlichen Zwinkern. Sie lachte und unternahm gar nicht erst den Versuch, diese Behauptung abzustreiten.

"Bis heute Abend", sagte sie herzlich.

"Ich freue mich darauf", erwiderte er und ergriff zum Abschied ihre Hand. Als Miss Parker das Flugfeld kurz darauf verließ, fühlte sie sich so gut wie schon lange nicht mehr.



Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
18:20



"Ich weiß nicht, Syd. Wir können doch nicht einfach in ihr Haus einbrechen. Wenn sie das jemals erfährt, bringt sie uns um."

"Erstens würde sie uns nicht umbringen, weil wir uns Sorgen um sie gemacht haben. Zweitens werden wir ihr nichts davon erzählen. Drittens", sagte Sydney ruhig und zog etwas aus der Tasche seines Jacketts, "habe ich einen Schlüssel für das Haus. Wir brechen also gar nicht ein." Und viertens, fügte er in Gedanken hinzu, war Mr. Parker nicht besonders hilfreich.

Broots wirkte nicht sehr überzeugt und zog überrascht die Augenbrauen hoch, als er den Schlüssel sah.

"Sie hat Ihnen den Schlüssel für ihr Haus gegeben?" fragte er ungläubig.

Sydney machte sich bereits am Schloß zu schaffen, als er antwortete.

"Das habe ich nicht gesagt. Genaugenommen stammt dieser Schlüssel von Catherine. Es ist nicht meine Schuld, daß Miss Parker nie das Schloß austauschen ließ. Andererseits ist das jetzt ein Vorteil für uns. So - nach Ihnen."

Die Tür schwang auf, und Sydney deutete mit einem einladenden Lächeln nach innen. Mit einem Seufzen ging Broots an ihm vorbei und betrat Miss Parkers Haus. Hinter ihm schloß Sydney die Tür wieder und machte dann das Licht an.

"Sind Sie schon einmal hier gewesen?" erkundigte er sich bei Broots. Der schüttelte nur den Kopf und sah sich neugierig um.

"Nein", sagte er nach einer Weile, um sich dann zu Sydney umzudrehen. "Uh - wonach suchen wir eigentlich?"

Sydneys Blick glitt prüfend durch das Wohnzimmer, und er schüttelte andeutungsweise den Kopf.

"Ich weiß es nicht, Mr. Broots. Nach etwas Ungewöhnlichem, das uns vielleicht sagen kann, wohin Miss Parker verschwunden ist. Spuren, Hinweise... Im Grunde genommen dasselbe, was wir auch in Jarods ehemaligen Verstecken suchen. Halten Sie einfach die Augen offen, in Ordnung?"

"Ist gut. Syd, glauben Sie, daß ihr etwas passiert ist? Ich meine, was wenn das Centre... Aber Mr. Parker würde das doch nie zulassen, oder? Sie ist schließlich seine Tochter."

Sydney warf ihm einen kurzen, nachdenklichen Blick zu.

"Ja, das ist sie. Manchmal frage ich mich nur, ob er sich noch daran erinnert."



Broots versuchte, das unbehagliche Gefühl abzuschütteln, das er hatte, seit Sydney und er Miss Parkers Haus betreten hatten. Ganz egal was Sydney sagte, Miss Parker wäre ganz und gar nicht erfreut, wenn sie wüßte, daß sie hier waren. Er kam sich vor wie ein Einbrecher und zuckte bei jedem unerwarteten Geräusch zusammen.

Mit einem Seufzen blieb er vor einem Spiegel im Flur stehen. Nachdem er ein paarmal tief durchgeatmet hatte, wurde er ein wenig ruhiger. Dann hörte er plötzlich ein Geräusch aus der Richtung der Küche und stolperte einen Schritt nach hinten.

"Sydney?" fragte er leise.

Ihm fiel ein, daß Sydney noch im Wohnzimmer war und unmöglich in einen anderen Teil des Hauses gelangt sein konnte, ohne an ihm vorbeizukommen. Aber was hatte er dann aus der Küche gehört? Hatte etwa das Centre jemanden hergeschickt?

Hektisch sah sich Broots nach etwas um, mit dem er sich verteidigen konnte, entdeckte aber nichts. Rückwärts ging er zurück ins Wohnzimmer, immer die Küchentür im Blick.

"Sydney?" fragte er noch einmal, diesmal nur noch flüsternd.

"Was ist denn los, Broots?"

Broots fuhr herum und unterdrückte einen erschreckten Aufschrei, als Sydney plötzlich hinter ihm auftauchte.

"Oh Gott, Sydney. Ich... ich glaube, jemand ist in Miss Parkers Küche."

"Sind Sie sicher?"

"Na ja, ich habe nur ein paar Geräusche gehört", gab Broots zu, aber Sydney lächelte nachsichtig.

"Wir sollten trotzdem mal nachsehen."

"Uhm, na gut."



Sydney ging in den Flur, dann blieb er kurz stehen und lauschte. Schließlich zuckte er mit den Schultern, zum Zeichen, daß er nichts gehört hatte. Broots schnitt eine Grimasse, folgte dem älteren Mann aber. Vor der Küchentür blieben sie wieder stehen.

"Und, können Sie was hören?" wisperte Broots so leise, daß Sydney ihn kaum verstehen konnte.

"Nein, nichts. Am besten sehen wir einfach mal nach."

Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete Sydney die Tür einen Spalt breit. Drinnen brannte Licht, also mußte Broots recht haben, denn keiner von ihnen war bisher in der Küche gewesen. Sydney atmete tief durch und öffnete die Tür dann ganz. Es befand sich tatsächlich noch jemand im Haus, und Sydney stellte erleichtert fest, daß er den anderen 'Einbrecher' kannte.

"Hallo, Jarod", sagte er, gerade als der Pretender sich zu ihm umdrehte. Leichte Überraschung zeigte sich auf Jarods Gesicht, außerdem schien er verärgert zu sein. "Es ist alles in Ordnung, Broots. Jarod ist hier", fügte er an Broots gewandt hinzu, der noch immer auf der anderen Seite der Tür stand.

Broots streckte den Kopf in die Küche, und auch er wirkte erleichtert.

"Hallo, Sydney. Mr. Broots."

"H-hallo", erwiderte Broots, der sich in Jarods Gegenwart noch immer ein wenig unwohl fühlte. "Uhm, ich sehe mich noch ein bißchen im Rest des Hauses um, okay?"

Er wartete keine Antwort ab, sondern ließ Sydney und Jarod allein. Jarod lehnte am Kühlschrank und musterte Sydney.

"Also, was macht ihr beide hier?" fragte er dann, und Sydney war sich jetzt fast sicher, daß Jarod sich über irgend etwas ärgerte.

"Das könnte ich dich auch fragen", sagte Sydney, anstatt Jarods Frage zu beantworten.

"Miss Parker scheint verschwunden zu sein, also wollte ich die Gelegenheit nutzen, mich in aller Ruhe umzusehen."

Sydney ahnte, daß diese Erklärung nur zur Hälfte der Wahrheit entsprach.

"Broots und ich haben nach Hinweisen gesucht, die uns verraten, wo sie ist - oder warum sie fort ist. Hast du etwas gefunden, Jarod?"

Der Pretender machte ein abfälliges Geräusch.

"Falls es Hinweise gegeben hat, sind sie nicht mehr hier."

Sorge und Verwirrung zeichneten sich für einen Augenblick in Jarods Zügen ab. "Ich dachte zuerst, Miss Parker hätte das Centre verlassen - bis ich heute herkam. Leider war ich nicht der erste, der auf diese Idee gekommen ist. Vor kurzem ist ein Team von Cleanern hier gewesen. Entweder haben sie Spuren beseitigt oder selbst welche gesucht, so wie wir."

Sydney atmete tief ein.

"Glaubst du, das Centre hat sie..."

"Nein", antwortete Jarod sofort. "Ich glaube, im Centre weiß auch niemand, wo sie ist. Die Frage ist nur, was Miss Parker vorhat. Ich konnte ihre Spur bis nach Großbritannien verfolgen, London, um ganz genau zu sein. Aber vor zwei Wochen habe ich sie verloren. Sie hat ihre Spur verdammt gut verwischt."

"Mehr konntest du nicht herausfinden?"

"Nichts Konkretes bis jetzt, nur ein paar Vermutungen. Es wird wohl erst alles klarer werden, wenn Miss Parker zurückkehrt."

"Falls sie zurückkehrt", murmelte Sydney. Jarod sah ihn überrascht an.

"Wenn sie zurückkehrt", sagte er dann fest.

"Was macht dich da so sicher?"

"Nenn es ein Gefühl."

Sydney musterte seinen ehemaligen Schützling eingehend.

"Was ist los, Jarod? Irgend etwas belastet dich doch."

Jarod seufzte.

"Ich will nicht darüber reden, in Ordnung? Das würde es nur schwieriger machen."

Er erwiderte Sydneys Blick ruhig, aber nur kurz, dann wandte er sich ab und ging zur Hintertür.

"Ich gehe jetzt. Hier gibt es nichts zu finden. Ihr solltet auch nach Hause fahren. Gute Nacht, Syd."

Ohne ein weiteres Wort öffnete Jarod die Tür, ging nach draußen und war kurz darauf in der einsetzenden Dunkelheit verschwunden. Sydney sah ihm besorgt und verwundert nach. Jarods Verhalten stellte im Moment ein Rätsel für ihn dar. Er hoffte, daß Jarod seine Meinung ändern und doch noch mit ihm reden würde.

Schließlich schloß Sydney die Tür und verließ die Küche, um Broots zu suchen. Wenn Jarod recht hatte, verschwendeten sie hier nur ihre Zeit. Andererseits war das vielleicht besser als nur untätig herumzusitzen und zu warten.



Langton Cottage
Scofield, GB
18:55


"Miss Parker, Sie sind zu früh dran", erklärte Major Charles lachend, als er ihr die Tür öffnete.

"Oh, aber nur fünf Minuten. Ich komme nicht gerne zu spät", erwiderte sie lächelnd. Charles bat sie herein, und sie folgte ihm in sein gemütliches Haus, das seinen freundlichen Charakter deutlich nach außen sichtbar widerspiegelte.

"Sie sehen wirklich bezaubernd aus, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten."

"Vielen Dank."

Trotz seiner gegenteiligen Beteuerungen hatte der Major bereits alle Vorbereitungen abgeschlossen und servierte ein köstliches Menü. Während des Essens drehte sich das Gespräch hauptsächlich um Oberflächlichkeiten wie das überraschend gute Wetter und die Dinge, die Miss Parker während ihres bisherigen Aufenthalts in England erlebt hatte.

"Das war wirklich köstlich", lobte Miss Parker, nachdem sie mit dem Nachtisch fertig waren. "Ehrlich gesagt habe ich gar nicht erwartet, daß Sie so ein guter Koch sind."

"Ich danke Ihnen. Leider habe ich nur selten Gäste, an denen ich meine Kochkünste ausprobieren kann. Kommen Sie, wir machen es uns im Wohnzimmer bequem. Dort können wir uns besser unterhalten."

Sie half ihm, den Tisch abzuräumen, dann folgte sie ihm ins Wohnzimmer.

"Wie lange wollen Sie noch in England bleiben, Miss Parker?" wollte Charles von ihr wissen.

"Nur noch ein paar Tage. Es wird langsam Zeit, daß ich in die Staaten zurückkehre."

"Das dachte ich mir. Schade, ich hatte gehofft, daß Sie noch ein wenig länger hierbleiben würden."

"Nicht, daß ich das nicht möchte... Aber zu Hause wartet schon ein großer Stapel mit Arbeit auf mich", meinte sie mit einem bedauernden Seufzen.

Er lächelte mitfühlend, dann beugte er sich etwas nach vorn.

"Sie haben heute Morgen Jarod erwähnt..."

"Sie möchten bestimmt wissen, wie es ihm geht. Tut mir leid, ich hätte es Ihnen schon früher sagen sollen."

"Sie müssen sich nicht entschuldigen. Aber ich bin wirklich neugierig. Es ist sehr lange her, seit ich ihn zuletzt gesehen habe."

Miss Parker schwieg. Sie hatte keine Ahnung, wo sie anfangen sollte. Plötzlich kam sie sich wie eine Betrügerin vor. Immerhin war sie Jarods Jägerin, eine Angestellte des Centres. Schuldbewußt sah sie zu Boden, bevor sie entschlossen den Kopf hob, um dem verständnisvollen Blick des Majors zu begegnen.

"Ich habe Ihnen heute Morgen gesagt, daß Sie mich kaum kennen", begann sie schließlich. "Dafür hatte ich einen Grund. Sehen Sie, ich... arbeite für das Centre."

Die freundliche Miene des Majors veränderte sich nicht. Seine Augen schienen sie sogar noch eine Spur freundlicher anzulächeln.

"Ich weiß", erwiderte er schlicht.

Verwirrt sah sie ihn an.

"Ich sagte Ihnen doch, daß ich mich bemühe, informiert zu bleiben."

Er beugte sich vor und berührte sanft ihre Hand.

"Und jetzt weiß ich auch, daß ich heute Morgen recht hatte. Sie kommen nach Ihrer Mutter."

"Aber...", begann sie und brach dann ab. "Was wissen Sie?" fragte sie dann leise.

"Genug. Ich habe Jarods Entwicklung so gut verfolgt, wie es mir möglich war. Dasselbe gilt auch für Sie. Ich möchte Ihnen etwas sagen: Ich verstehe Sie. Und ich mache Ihnen keine Vorwürfe. Sie können nichts für Ihren Vater, und trotz all seiner Fehler haben Sie sich zu einer jungen Frau entwickelt, auf die Ihre Mutter mehr als stolz wäre."

Er machte eine kurze Pause und drückte beruhigend ihre Hand.

"Zugegeben, Catherine und ich haben uns eine andere Zukunft für unsere Kinder vorgestellt, aber Sie haben ihre Erwartungen noch übertroffen."

Miss Parker wußte nicht, was sie sagen sollte. Tränen brannten in ihren Augen.

"In den vergangenen drei Jahren habe ich Jarod im Auftrag des Centres gejagt, nachdem er entkommen konnte."

"Aber Sie haben ihn nicht zurückgebracht, obwohl Sie es gekonnt hätten."

Sie schüttelte den Kopf. Charles verstärkte den Druck seiner Hand.

"Miss Parker, machen Sie sich keine Vorwürfe. Sie sind ein Opfer Ihrer Vergangenheit, ebenso wie Jarod. Das Wichtigste ist, daß Sie sich endlich daraus befreit haben. Glauben Sie mir, Sie sind auf dem Weg zurück zu sich selbst, das kann ich in Ihren Augen erkennen."

"Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich danke Ihnen, Charley", flüsterte sie.

"Wieso erzählen Sie mir nicht etwas über Jarod", schlug er ihr vor.

Sie lachte leise.

"Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er gerade als Professor an einem College beschäftigt. Er genießt sein Leben in Freiheit sehr und kommt ziemlich gut zurecht, wenn man bedenkt, unter welchen Umständen er aufgewachsen ist. Aber um ehrlich zu sein... wir kommen nicht sehr gut miteinander aus."

"Vielleicht hatten Sie dazu einfach noch keine Gelegenheit. Als Kinder wart ihr jedenfalls unzertrennlich."

"Schwer vorstellbar", meinte Miss Parker skeptisch, und Charles lachte leise. "Darf ich Sie etwas fragen?"

"Nur zu."

"Wieso sind Sie nicht bei Ihrer Familie geblieben? Bei Ihrer Frau und Jarods Schwester?"

Er seufzte schwer.

"Aus Sicherheitsgründen. Ich wollte sie nicht in Gefahr bringen. Das Centre war nur an mir interessiert, nicht an ihnen. Es ist mir unendlich schwer gefallen, sie zurückzulassen, aber es war einfach das Beste für sie. Ich wünschte nur, ich hätte den Kontakt besser aufrechterhalten können. Damals mußte alles sehr schnell gehen. Ihre Mutter wollte Jarod retten und dann mit Ihnen nach Europa gehen, aber dazu kam es nie."

Miss Parker nickte.

"Es tut mir leid."

Ein Lächeln vertrieb die Trauer aus seinem Gesicht.

"Das muß es nicht. Nichts davon läßt sich jetzt noch ändern. Aber Sie sind hergekommen, um etwas über Ihre Mutter und die Vergangenheit zu erfahren."



Das Centre
Blue Cove, Delaware
SL 7
06/06/1964


"Charley, du träumst schon wieder."

Catherines sanfte, amüsierte Stimme riß ihn aus seinen Gedanken. Schuldbewußt sah er zu ihr auf.

"Ich habe nur nachgedacht", verteidigte er sich schwach. Sie bedachte ihn mit ihrem einzigartigen Lächeln und einem amüsierten Funkeln in den Augen.

"Natürlich hast du das", erwiderte sie dann. Er lachte leise und freute sich, als sie einfiel. Ihr Lachen war mindestens ebenso angenehm wie ihr Lächeln, aber in letzter Zeit hatte er beides schmerzlich vermißt.

"Ah, die ersten fröhlichen Gesichter, die ich heute sehe", sagte Jacob, als er den Raum betrat. Mit einem schweren Seufzer ließ er sich auf einen der Stühle sinken. Sofort kehrte der besorgte Ausdruck in Catherines Gesicht zurück.

"Ist alles in Ordnung, Jacob?" fragte sie ihn beunruhigt. Jacob bemühte sich um ein beruhigendes Lächeln.

"Ach, es ist bloß Sydney. Ich wünschte, er würde mir endlich zuhören, aber er weigert sich einfach."

"Gib ihm noch etwas Zeit", mahnte Catherine ruhig. "Früher oder später wird er erkennen, was hier vor sich geht und dann die richtige Entscheidung treffen."

Diesmal kam Jacobs Lächeln von Herzen.

"Ich wünschte, ich hätte deine Geduld." Neugierig sah er sich um. "Wo ist Fenigore? Er wollte doch auch kommen, oder nicht?"

Catherine schüttelte den Kopf.

"Ihm ist etwas dazwischengekommen. Wir sind heute nur zu dritt."

Charles bemühte sich gar nicht erst, seine Erleichterung zu verbergen. Er hatte nie ein Geheimnis aus seiner Abneigung gegen Fenigore gemacht, aber Catherine zuliebe arbeitete er mit ihm zusammen. Jacob neigte den Kopf ein wenig zur Seite.

"Dann sollten wir gleich zur Sache kommen. Ausnahmsweise habe ich nämlich mal gute Neuigkeiten. Soweit ich weiß, arbeitet Raines zur Zeit an keinem neuen Projekt, was uns eine kleine Verschnaufpause verschafft, in der wir Pläne schmieden können."

Obwohl Charles Jacobs Optimismus nicht ganz teilte, freute ihn diese Entwicklung doch. Sie alle brauchten dringend etwas Zeit für sich. Ein Seitenblick zu Catherine verriet ihm, daß auch sie sich über die positive Nachricht freute, doch die Besorgnis war nicht ganz aus ihren Zügen gewichen. Charles verstand sie nur zu gut.

"Wie ich Raines kenne, wird er nicht lange stillhalten", meinte er nachdenklich. "Aber wir sollten die Zeit nutzen, die sich uns bietet. Ein wenig Freizeit wird uns allen nicht schaden. Wie wär's, wenn wir uns alle ein paar Gedanken machen und uns übermorgen wieder hier treffen?"

Jacob nickte sofort.

"Klingt großartig. Sydney zieht mir die Haut ab, wenn ich ihn schon wieder allein an seinem Experiment arbeiten lasse."

"Catherine?" fragte Charles leise. Diesmal war sie es, die mit ihren Gedanken woanders war. Als sie ihn ansah, verriet ihm ihr Blick sofort, an wen sie gerade gedacht hatte.

"Deine Tochter wird sich sicher sehr darüber freuen, einen ganzen Tag mit dir zu verbringen", sagte er sanft. Er konnte sehen, wie sehr sie sich auf diese Gelegenheit freute, aber in ihren Augen las er auch Mitgefühl. Beruhigend legte er ihr die Hand auf den Arm. "Ist schon gut", meinte er leise. Sie schüttelte den Kopf.

"Nein, das ist es nicht", erwiderte sie traurig. Die Tatsache, daß er nicht die Möglichkeit hatte, den Tag mit seinem Sohn zu verbringen, schien sie mit ebensoviel Kummer zu erfüllen wie ihn selbst. Doch dann hellte sich ihre Miene ein wenig auf. "Charles, bitte leiste uns doch morgen Gesellschaft. Ich weiß, es ist nicht dasselbe, aber..."

"Bist du sicher?" vergewisserte sich Charles, obwohl er die Antwort bereits kannte. Sie nickte, die Andeutung eines Lächelns in den Augen. Allein das genügte schon, um jeden Widerstand bei ihm zu brechen. "Dann wird es mir ein Vergnügen sein", antwortete er leise.

Auf der anderen Seite des Tisches erhob sich Jacob.

"Ich mache mich jetzt auf den Rückweg", verkündete er. "Sonst schickt Syd am Ende noch einen Suchtrupp nach mir los."

Auch Catherine stand auf.

"Ich begleite dich, Jacob. Ich möchte mit Sydney sprechen. Glaubst du, daß er etwas Zeit hat?"

Jacob lachte leise.

"Für dich bestimmt, Catherine. Mach's gut, Charley. Wir sehen uns in zwei Tagen."

"Bis dann, Jacob. Und wir sehen uns morgen, Catherine."

"Ich freue mich drauf, Charley", versicherte sie ihm mit einem Lächeln. Sie berührte ihn zum Abschied an der Schulter, dann verließ sie zusammen mit Jacob den Raum. Charles sah den beiden nach und fragte sich, was Catherine wohl vorhaben mochte. Er kannte diesen bestimmten Ausdruck in ihren Augen ganz genau, aber fürs erste blieb ihm wohl nichts anderes übrig als zu warten.



Das Centre
Blue Cove, Delaware
SL 7
06/07/1964


Charles saß ungeduldig in dem kleinen Raum, den die kleine Gruppe um Catherine Parker für gewöhnlich als Treffpunkt benutzte. Zum hundertsten Mal fragte er sich, warum sie ihn ausgerechnet hier treffen wollte. Gestern hatte er natürlich angenommen, daß sie den Tag außerhalb des Centres verbringen würden, besonders, da ihre kleine Tochter mitkommen sollte.

Als sich die Tür endlich öffnete, sah Charles erwartungsvoll auf. Allerdings war es nicht Catherine, die den Raum als erste betrat. Das süßeste kleine Mädchen, das er je gesehen hatte, kam die wenigen Stufen vorsichtig herunter und lächelte ihn dann an. Sie hatte das Lächeln ihrer Mutter, und Charles konnte gar nicht anders, als es zu erwidern.

"Hallo, Marine", sagte er sanft. Ihr Lächeln vertiefte sich, als sie ihren Namen hörte.

"Hallo", erwiderte die Kleine fröhlich. Charles überlegte kurz. Sie mußte jetzt etwa vier Jahre alt sein. Ein Jahr jünger als Jarod, dachte er kummervoll, aber sein Kummer verflog, als er in das strahlende Gesichtchen von Catherines Tochter sah. Plötzlich fragte er sich, wie sie wohl als junge Frau aussehen würde. Ganz sicher mindestens ebenso schön und charmant wie ihre Mutter... Schon jetzt gelang es ihr mit Leichtigkeit, jedes Herz im Sturm zu erobern.

"Marine?" Catherine steckte den Kopf in das Zimmer und lächelte erleichtert, als sie ihre Tochter sah. Das Mädchen wandte ihr sofort den Kopf zu.

"Mama", sagte es glücklich und kam seiner Mutter entgegen, um sich umarmen zu lassen. Charles hielt den Atem an, als er den glücklichen und liebevollen Ausdruck auf Catherines Gesicht sah, während sie ihre Tochter im Arm hielt. Sie schien sie nur widerstrebend wieder loszulassen. Schließlich kam sie zu Charles und setzte sich neben ihn an den Tisch.

"Hallo, Charley", begrüßte sie ihn. "Sie steckt voller Energie. Außerdem kommt sie jetzt in die Phase, in der sie alles erforschen möchte. Manchmal kann ich kaum noch mit ihr Schritt halten", meinte sie lachend und beobachtete liebevoll ihre Tochter dabei, wie sie den Raum erkundete. Charles lächelte. Er freute sich, sie so glücklich zu sehen.

"Dann ähnelt sie ihrer Mutter", erwiderte er, aber sie schüttelte lächelnd den Kopf.

"Es ist noch viel zu früh, um das zu sagen."

"Oh, ich weiß nicht", sagte Charles hintergründig. Ein Klopfen an der Tür hinderte ihn daran, mehr zu sagen. Erschrocken sah er auf, doch Catherine legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm.

"Das ist Sydney", erklärte sie und stand auf, um zur Tür zu gehen. Sie öffnete sie langsam.

"Hallo, Sydney."

"Ich bin immer noch nicht davon überzeugt, daß ich das Richtige tue, Catherine", erwiderte Sydney statt einer Begrüßung. "Weder Ihr Mann noch Dr. Raines dürften sehr begeistert sein, wenn sie das erfahren."

"Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, Sydney. Sie tun das Richtige, glauben Sie mir. Vielen Dank."

"In einer Stunde hole ich ihn wieder ab", stellte Jacobs Zwillingsbruder klar. "Und wenn ich feststellen sollte, daß ihm das hier geschadet hat, wird sich das nicht wiederholen."

"Danke, Sydney", wiederholte Catherine. "Es wird ihm nicht schaden, Sie werden sehen."

"Eine Stunde, Catherine", erinnerte er sie, dann trat er von der Tür zurück.

Charles fragte sich, was los war. Er reckte den Hals, um etwas zu erkennen, aber Catherine versperrte ihm die Sicht. Sie beugte sich hinunter.

"Hallo, Jarod", sagte sie dann und Charles glaubte, sein Herz müßte jeden Augenblick stehenbleiben. Hatte er das wirklich gerade gehört? Bisher war er ihm nie gelungen, seinen Sohn zu sehen, egal wie sehr er es probiert hatte. Catherine richtete sich wieder auf und trat einen Schritt zur Seite.

Wie gebannt starrte Charles auf den Jungen, der in der Tür stand und unschlüssig nach unten in den Raum sah. Als er auch weiterhin reglos stehenblieb, berührte Catherine ihn sanft an den Schultern.

"Hier ist jemand, der dich gerne sehen möchte", sagte sie sanft.

"Jarod", flüsterte Charles, als er seine Stimme endlich wieder unter Kontrolle hatte. Er wußte, daß Jarod sich unmöglich an ihn erinnern konnte, aber im Moment spielte das keine Rolle. Zusammen mit Catherine kam er die wenigen Stufen hinunter und blieb dann vor Charles stehen. Seine dunklen Augen sahen fragend zu ihm auf.

Ohne weiter darüber nachzudenken, ging Charles in die Hocke und umarmte seinen Sohn. Er spürte, wie ihm Tränen über das Gesicht strömten, aber es war ihm egal. Alles, was in diesem Moment zählte, war Jarod. Voller Dankbarkeit sah Charles zu Catherine auf.

"Danke", wisperte er. Auch sie weinte, aber es waren Freudentränen, trotz des Wissens, daß dieses Zusammensein nur von kurzer Dauer sein würde.

Widerstrebend ließ Charles Jarod wieder los und faßte einen Entschluß. Er würde ihm nicht sagen, daß er sein Vater war. Für Jarod würde das nur zusätzlichen Schmerz bedeuten. Jarod sah ihn noch immer fragend an.

"Wer sind Sie?" wollte er schließlich wissen.

Charles schluckte, hielt aber an seinem Entschluß fest.

"Mein Name ist Charles. Ich... bin ein Freund", brachte er hervor. Für einen Moment schien Jarod darüber nachzudenken, dann nickte er und lächelte. In seinem Blick lag aufrichtiges Vertrauen, und Charles schwor sich, das er es nie enttäuschen würde.

"Mama", ließ sich auf einmal Catherines Tochter mit einer Dringlichkeit vernehmen, die Charles ein Lächeln entlockte. Marine stand neben ihrer Mutter und zog kurz an ihrem Rock, um ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Der Versuch war sofort von Erfolg gekrönt, und Catherine hob ihre kleine Tochter auf ihren Arm. Jarod beobachtete das Geschehen voller Faszination.

"Was ist denn, mein Schatz?" fragte Catherine. Aber Marine hatte ihr Ziel offenbar schon erreicht, denn sie lächelte zufrieden und küßte ihre Mutter auf die Wange. Catherine lachte leise. "Oh, ich verstehe." Sie küßte ihre Tochter auf die Stirn, drückte sie an sich und stellte sie dann wieder auf den Boden. Das Mädchen gluckste vergnügt, dann wandte es sich auf einmal zu Jarod um und musterte ihn aus großen blauen Augen.

"Hi", sagte sie dann und bedachte ihn mit ihrem unwiderstehlichen Lächeln. Wie nicht anders zu erwarten, erwiderte Jarod ihr Lächeln. Charles stellte fest, daß sein Sohn jetzt zum ersten Mal, seit er hier war, seine unnatürliche Ernsthaftigkeit verlor und wie ein ganz normales Kind wirkte.

"Hi", erwiderte er beinahe schüchtern, und Charles fühlte sich plötzlich an den Tag erinnert, an dem er Catherine zum ersten Mal getroffen hatte. Ebenso wie ihrer Mutter gelang es Marine jetzt problemlos, jede Schüchternheit zu zerstreuen. Ein einziger Blick genügte ihr dafür völlig. Als nächstes griff sie nach Jarods Arm und zog ihn mit sich fort, um ihm den Inhalt der Tasche zu zeigen, die sie mitgebracht hatte.

Catherine beobachtete das Geschehen amüsiert und sah dann zu Charles, der sich so glücklich fühlte wie schon seit Jahren nicht mehr. Er nahm ihre Hand und dankte ihr noch einmal. Sie schüttelte ganz leicht den Kopf.

"Ich wünschte, ich könnte noch mehr tun", sagte sie leise. Charles drückte ihre Hand.

"Hör schon auf, Catherine. Du hast mich heute sehr glücklich gemacht. Und jetzt laß uns den Tag genießen."

Er setzte sich neben sie an den Tisch, und für eine Weile beobachteten sie schweigend die beiden Kinder.

"Sieh sie dir nur an", sagte Charles. Fasziniert sah er dabei zu, wie Marine ihrem neuen Freund gerade etwas erklärte. Jarod hörte ihr mit offenem Mund zu, den Blick fest auf ihre Augen gerichtet.

"Beinahe wie Geschwister", flüsterte Catherine zurück. "Ich hoffe, sie werden einmal ebenso glücklich sein, wenn sie erwachsen sind."

"Davon bin ich überzeugt", versicherte Charles mit Nachdruck. "Dafür werden wir sorgen. Und wenn wir es nicht schaffen, werden sie es selbst tun."

Die Stunde war viel zu schnell vorüber. Als Sydney kam, um Jarod wieder abzuholen, konnte Charles sich nur schwer damit abfinden. Er verabschiedete sich von Jarod, dem der Abschied ebenso schwer zu fallen schien.

"Kann ich wiederkommen?" fragte er, kurz bevor er die Treppe erreichte. Catherine legte ihm die Hand auf den Kopf.

"Ich werde tun, was ich kann", versprach sie dem Jungen, während sie ihn zu Sydney begleitete. Charles wußte, daß er sich auf sie verlassen konnte.



Charles sah lächelnd von den Papieren auf, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Für eine ganze Weile ruhte sein Blick auf Catherines Tochter, die ein paar Meter entfernt von ihm und Jacob auf dem Boden saß und spielte. Zusammen mit Jacob paßte er auf Marine auf und diese Aufgabe bereitete ihnen beiden großes Vergnügen. In den letzten Wochen hatten sie viel Zeit mit Marine verbracht und sie ins Herz geschlossen wie ihr eigenes Kind.

Catherine hatte ihr Wort gehalten und weitere Treffen mit Jarod arrangiert. Charles war es gelungen, ein inniges Verhältnis zu seinem Sohn aufzubauen, und dafür war er Catherine unendlich dankbar.



Langton Cottage
Scofield, GB
23:20


Als Charles auf die Uhr sah, verzog er überrascht das Gesicht.

"Meine Güte, jetzt rede ich schon seit über drei Stunden."

Miss Parker sah ihn erstaunt an.

"Wirklich?"

Er lachte leise.

"Das passiert, wenn man so selten Gelegenheit hat, über die Vergangenheit zu reden. Obwohl kein Tag vergeht, an dem ich nicht darüber nachdenke", gab er zu.

Miss Parker griff nach seiner Hand und drückte sie leicht.

"Ich danke Ihnen, Charley. Sie ahnen ja nicht, wieviel mir das bedeutet."

"Vielleicht doch, Miss Parker."

Sie lächelte, und in ihren Augen erkannte er denselben Charme und die Wärme, die er dort schon vor so vielen Jahren gesehen hatte. Mit einer geschmeidigen Bewegung erhob sie sich.

"Ich weiß, daß es noch viel zu sagen und noch mehr zu erzählen gibt, aber für heute habe ich Sie schon lange genug aufgehalten", sagte sie entschlossen, aber auch mit deutlich hörbarem Bedauern.

Auch Charles erhob sich.

"Bitte versprechen Sie mir, daß Sie mich noch einmal besuchen, bevor Sie England verlassen, Miss Parker", bat er mit bewegter Stimme.

"Marine", verbesserte sie ihn. "Und ich komme gerne noch einmal wieder. Vielen Dank für den wundervollen Abend, Charley."

"Es war mir ein Vergnügen, Marine", erwiderte er. "Kommen Sie gut nach Hause."



Auf dem Weg nach Hause kreisten Miss Parkers Gedanken noch lange um ihr Gespräch mit Jarods Vater. Nur ein kleiner Teil ihrer Aufmerksamkeit war auf die Straße gerichtet. Doch plötzlich fiel ihr etwas ins Auge.

Es war ein Straßenschild, das sie für den Moment von der Vergangenheit ablenkte. Pendleton Heights, las sie im Vorbeifahren, als die Scheinwerfer das Schild für einen kurzen Augenblick erhellten. Der Name löste eine Reaktion in ihr aus, die sie sich zwar noch nicht erklären konnte, die sie aber auf gar keinen Fall ignorieren würde. In den letzten Wochen hatte sie gelernt, ihren Gefühlen zu vertrauen.

Da es nun ohnehin schon zu spät war, um Nachforschungen anzustellen, beschloß sie, am nächsten Tag wiederzukehren und der Sache auf den Grund zu gehen.



Pendleton Heights, GB
Am nächsten Tag
9:12


Der dunkle Wagen fuhr langsam die Auffahrt entlang. Große Eichen säumten den langen, geschwungenen Kiesweg, und das Sonnenlicht bildete interessante Muster auf dem Boden.

All das sah Miss Parker nicht. Sie dachte über das Schild nach, das sie an der Zufahrt des Geländes gesehen hatte. Pendleton Heights war eine Nervenheilanstalt. Das allein genügte noch nicht, um sie zu beunruhigen. Aber zusammen mit der Erinnerung daran, warum ihr dieser Ort so bekannt vorkam, reichte es aus, um sie zu alarmieren.

Der Name dieser Klinik war während einer Unterhaltung zwischen Lyle und ihrem Vater gefallen. Zufällig hatte sie das Ende mitangehört. Ihr Vater war sehr aufgebracht gewesen, aber Lyle schien der Sache nur eine geringe Bedeutung beizumessen. Daddy hatte verlangt, daß so etwas nie wieder vorkam, und Lyle war nur allzu bereit gewesen nachzugeben. Obwohl er nichts versprochen hatte.

Miss Parker fragte sich, was dieser Ort mit den Machenschaften ihres Bruders zu tun haben konnte, und die möglichen Antworten gefielen ihr gar nicht.

Sie parkte den Wagen und ging auf das große Gebäude zu, das die Klinik beherbergte. Von außen wirkte es überaus elegant und paßte irgendwie nicht zu dem Bild, das Miss Parker von einer Nervenheilanstalt hatte.

Eine breite, dreistufige Treppe führte zum Haupteingang, der von zwei mächtigen Säulen eingerahmt wurde. Die große Doppeltür, durch die man nach innen gelangen konnte, stand weit offen und gewährte bereits von draußen einen ersten Blick in die Klinik.

Nachdem Miss Parker das Haus betreten hatte, fand sie sich in einer riesigen Halle wieder, die elegant und geschmackvoll eingerichtet war. Alles in allem erinnerte diese Anstalt mehr an ein Hotel als an eine psychiatrische Einrichtung. Andererseits würde wahrscheinlich aber auch niemand ein korruptes Forschungszentrum hinter der stilvollen Fassade des Centres vermuten.

Nach ein paar Schritten blieb Miss Parker unschlüssig stehen. Eine Ahnung hatte sie hergeführt, und jetzt fragte sie sich, was sie als nächstes tun sollte.

"Kann ich Ihnen behilflich sein?" fragte plötzlich eine freundliche Stimme zu ihrer Linken. Als sie sich in diese Richtung drehte, entdeckte Miss Parker eine Art Rezeption, hinter der eine Frau mittleren Alters stand und sie fragend anlächelte. Ihre Gedanken überschlugen sich, während sie auf den Empfang zuging.

"Guten Tag", sagte sie, während sie noch immer nach einer plausiblen Erklärung für ihre Anwesenheit suchte. "Mein Name ist Miss Parker. Bin ich hier richtig in der Pendleton Heights Klinik?" Das war zwar keine sehr originelle Frage, aber zumindest verschaffte sie ihr etwas Zeit.

Die Frau hinter dem Schalter nickte freundlich.

"Ja, das sind Sie. Ich bin Schwester Giffens. Darf ich fragen, was Sie hierher geführt hat?"

"Nun, wissen Sie", Miss Parker senkte ein wenig ihre Stimme, "man hat mir diese Einrichtung sehr empfohlen. Mein Bruder hatte diesen schrecklichen Unfall, als er noch ein Kind war. Bisher war er zu Hause in den Staaten untergebracht, aber mein Vater und ich haben den Eindruck, daß er dort nicht glücklich ist."

Das Gesicht von Schwester Giffens hellte sich sichtbar auf.

"Oh, das tut mir leid", meinte sie teilnahmsvoll. "Und jetzt sind Sie extra aus den USA hierher gekommen?"

"Wie ich schon sagte, Sie wurden uns von Freunden empfohlen. Ich versichere Ihnen, für meinen Bruder ist meinem Vater und mir keine Anstrengung zu groß. Er ist wie ein großes Kind, der arme Kerl."

"Ich bin sicher, daß er sich hier sehr wohl fühlen würde", versicherte die Schwester, die jetzt offenbar einen lukrativen Auftrag witterte. Miss Parker unterdrückte ein Lächeln.

"Geld spielt natürlich keine Rolle", ließ sie die Schwester in einem vertraulichen Tonfall wissen.

"Natürlich nicht", erwiderte die Frau hastig.

"Wäre es wohl möglich, daß ich mich hier ein wenig umsehen könnte?"

"Aber natürlich, Miss Parker. Bitte warten Sie einen Augenblick, dann rufe ich jemanden, der Sie ein wenig herumführt. Mrs. Whitlock, die Leiterin unserer Einrichtung, ist heute leider nicht da, aber ich unser Personal ist qualifiziert genug, um Ihnen alles zu zeigen."

Die Schwester setzte ihr Vorhaben sofort in die Tat um, und keine fünf Minuten später kam eine junge Frau die geschwungene Doppeltreppe hinunter, die hinauf in den ersten Stock führte. In ihrer Miene zeigte sich leichter Unmut, und Miss Parker schloß daraus, daß sie über Giffens Auftrag nicht besonders glücklich war.

"Ah, Schwester Travis, da sind Sie ja. Das hier ist Miss Parker. Sie würde sich gerne ein wenig in der Klinik umsehen. Wenn Sie so freundlich wären, sie zu begleiten..."

Giffens Aufforderung war eher ein Befehl als eine Bitte. Travis Augen verengten sich kurz, dann wandte sie sich mit einem knappen Nicken an Miss Parker.

"Bitte folgen Sie mir."

Miss Parker nickte ebenfalls, bedankte sich bei Schwester Giffens für die Hilfe und ging dann hinter Travis her, die schon auf halbem Weg nach oben war.

"Zur Zeit sind über fünfzig Patienten bei uns untergebracht, und die meisten von ihnen müssen rund um die Uhr betreut werden."

Es fiel Miss Parker nicht weiter schwer, den Grund für Travis Ärger zu erraten. Die Schwester hatte im Moment offenbar Wichtigeres zu tun, als Kindermädchen für eine Besucherin zu spielen.

"Hören Sie, Schwester, ich möchte Sie keineswegs von Ihrer Arbeit abhalten", sagte Miss Parker sanft. Travis warf ihr einen kurzen Blick zu und erwiderte: "Ist schon gut. Das hier wird ja nicht allzu lange dauern. Wollen Sie einen Verwandten hier unterbringen?"

"Ja, vielleicht. Gibt es vielleicht Gründe, die dagegen sprechen?"

Diesmal lächelte Travis amüsiert.

"Nein, dieses Haus genießt einen erstklassigen Ruf. Das hat allerdings auch seinen Preis."

Miss Parker hatte das Gefühl, daß die Schwester nicht von Geld sprach.

"Ich verstehe", sagte sie deshalb nur.

Travis führte sie durch das erste Stockwerk. Hin und wieder fühlte sich Miss Parker leicht an das Centre erinnert, aber im Großen und Ganzen machte die Klinik einen hervorragenden Eindruck. Als letztes brachte Travis sie in einen großen, lichtdurchfluteten Raum, in dem sich mehrere der Patienten aufhielten.

"Das hier ist der Aufenthaltsraum. Viele unserer Patienten verbringen hier den größten Teil des Tages. Hier gibt es die meisten Beschäftigungsmöglichkeiten, außerdem besteht hier die Möglichkeit, Kontakte zu den anderen Patienten zu knüpfen."

Unwillkürlich mußte Miss Parker an Angelo denken. Bestimmt würde er sich hier wohl fühlen. Auf alle Fälle wohler als im Centre.

Plötzlich wurde ihre Aufmerksamkeit abgelenkt. In einer Ecke des großen Raumes saß eine junge Frau, die unbeteiligt vor sich hin starrte. Von dem Treiben um sich herum schien sie nichts zu bemerken. Miss Parker berührte Travis kurz am Arm.

"Wer ist das?" fragte sie und nickte in Richtung der Frau. Zum ersten Mal nahm das Gesicht der Schwester einen weicheren Ausdruck an.

"Das ist Luca." Sie stutzte, dann sah sie Miss Parker genauer an. "Wissen Sie, Sie sehen ihr irgendwie ähnlich."

Travis Worte trafen sie wie ein Schlag. Ihr ungutes Gefühl kehrte zurück, um ein Vielfaches stärker.

"Ja", war zunächst alles, was sie hervorbrachte. "Warum ist Luca hier?"

Traurig schüttelte Travis den Kopf.

"Um ganz ehrlich zu sein: wir wissen nur, daß sie vergewaltigt worden ist. Seit Luca vor drei Monaten hergebracht wurde, hat sie so gut wie überhaupt nicht gesprochen. Die Ärzte tun ihr Möglichstes, aber bisher leider erfolglos. Irgend etwas Furchtbares muß mit Luca passiert sein."

In Travis Gesicht konnte Miss Parker deutlich ihr Mitgefühl und ihre Frustration erkennen.

"Darf ich mit ihr sprechen?" fragte sie aus einem Gefühl heraus.

"Warum das? Glauben Sie etwa, daß sie mit Ihnen sprechen wird?"

Miss Parker sah Travis an und berührte sie am Arm.

"Bitte, lassen Sie es mich versuchen. Es kann ihr doch nicht schaden."

Travis erwiderte ihren offenen Blick, und nach einer Weile schüttelte sie fast unmerklich den Kopf.

"Ich weiß zwar nicht, warum, aber Sie sehen so aus, als wüßten Sie, was Sie tun. Also versuchen Sie es ruhig. Aber ich warne Sie - machen Sie es nicht noch schlimmer."

"Vielen Dank, Schwester. Könnte ich vielleicht an einem etwas ruhigeren Ort mit Luca sprechen?"

Schwester Travis seufzte.

"Na gut. Kommen Sie mit, Miss Nightingale."



Der kleine Raum, in den Schwester Travis sie brachte, war ebenso elegant wie der Rest der Klinik, aber aus irgend einem Grund wirkte er gemütlicher. Nach ein paar Minuten kehrte Travis in das Zimmer zurück. Sie brachte Luca mit, die noch immer keine Notiz von ihrer Umwelt zu nehmen schien.

Miss Parker überlegte kurz.

"Bitte lassen Sie uns allein", bat sie dann. Travis streifte sie mit einem Blick. Sie sah aus, als wollte sie etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders. Ohne ein Wort drehte sie sich um und verließ den Raum.

Unschlüssig beobachtete Miss Parker die junge Frau, die auf der weichen Couch saß. Ihre Ahnung sagte ihr, daß Lyle etwas mit Lucas Zustand zu tun hatte. Es gab zwei Möglichkeiten für sie, Aufschluß zu gewinnen. Miss Parker entschied sich zunächst für die einfachere.

"Hallo, Luca", sagte sie so sanft wie möglich. Luca zeigte keine sichtbare Reaktion.

"Mein Name ist Miss Parker", fuhr sie fort, dann schüttelte sie den Kopf. "Du kannst mich aber Marine nennen." Noch immer keine Regung.

"Ich glaube, daß wir einen gemeinsamen Bekannten haben." Sie zögerte einen Augenblick, weil sie keine Ahnung hatte, wie Luca reagieren würde. "Sein Name ist Lyle."

Für einen Moment zeigte sich pures Entsetzen in Lucas Augen. Die junge Frau stieß einen heiseren Schrei aus und schlug die Arme vors Gesicht.

"Ganz ruhig, Luca. Er ist nicht hier. Du bist sicher vor ihm. Es tut mir leid." Miss Parker tat ihr Möglichstes, um Luca wieder zu beruhigen. Auf alle Fälle stand jetzt fest, daß Lyle hinter der Sache steckte.

Lucas Reaktion machte deutlich, daß Miss Parker so nicht weiterkommen würde. Also blieb ihr nur noch der andere Weg. Sie schloß kurz die Augen, um sich zu konzentrieren, und um sich davon zu überzeugen, daß sie das Richtige tat. Bisher war sie immer davor zurückgeschreckt, ihre neuen Talente zu nutzen.

Aber das hier war ein Notfall. Vielleicht konnte sie Luca helfen, indem sie herausfand, was mit ihr passiert war. Außerdem fühlte sie sich teilweise für den Zustand der Frau verantwortlich, weil ihr Bruder in die Angelegenheit verwickelt war.

"Ist schon gut, Luca. Entspann dich", murmelte sie beruhigend und setzte sich neben sie auf die Couch. Mittlerweile wußte sie besser, worauf es ankam. Seit ihrer ersten Simulation hatte sie an ihrer Technik gearbeitet, hauptsächlich, um sich vor ihren eigenen Reaktionen zu schützen.

Langsam steigerte sie ihre Konzentration, ließ sich immer weiter auf Luca ein, versuchte, ein Gefühl für sie zu bekommen.

Das Aufblitzen der ersten fremden Erinnerung war - wie schon beim ersten Mal - ein Schock. Mit all ihrer Selbstbeherrschung zwang sich Miss Parker, ihr Selbst nicht davor zu verschließen.

Lyles Gesicht erschien vor ihrem inneren Auge, lächelnd, charmant. Sie spürte, daß er Luca gefallen hatte. Aber anders als Luca sah sie hinter die Fassade und entdeckte dort Lyles berechnende Gefährlichkeit.

Die nächste Szene entfaltete sich vor ihr. Überrascht stellte sie fest, daß Lyle nach allen Regeln der Kunst um sie geworben hatte. Unwillkürlich fragte sie sich, warum.

Je mehr Zeit verging, desto schneller folgten die einzelnen Erinnerungen aufeinander. Häufig handelte es sich nur um Fragmente, einzelne Worte, Bilder oder Gerüche. Miss Parker spürte Lucas Zögern, sich noch weiter daran zu erinnern. Nur zu gerne hätte sie ihr diese Qualen erspart, aber es gab keinen anderen Weg.

Nach und nach filterte Miss Parker alle störenden Einflüsse aus dem Strom der Erinnerungen und Eindrücke heraus. Es gab etwas, das ihr immer stärker zu Bewußtsein kam, aber sie konnte es noch nicht fassen. Bewußt ließ sie es los, um später wieder darauf zurückzukommen.

Sie wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als plötzlich eine wahre Flut von Erinnerungen auf sie einstürmte. Verzweifelt bemühte sie sich, sie zu ordnen und ihre Distanz zu wahren, aber es war zwecklos. Es war bereits zu spät, sie hatte sich zu sehr auf Luca eingelassen, aber nur so konnte sie zum Kern ihres Traumas vordringen.

Als es soweit war, verlor sie beinahe die Kontrolle. Mit einem Mal wurde ihr bewußt, was vorhin ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Sie wußte zwar nicht, warum, aber Lucas Erinnerungen waren nicht die einzigen, die sie teilte. Irgendwie hatte sie einen Zugang zu Lyles Erinnerungen gewonnen.

Die Bilder überwältigten sie. Nur am Rande nahm sie war, daß Luca sich zurückzog und sie allein den Erinnerungen überließ.



Der Raum war dunkel. Dunkel und unheimlich. Sie hatte Angst. Das hier war nicht mehr der Mann, den sie letzten Monat kennengelernt hatte.

Er beherrschte sie, er quälte sie, und er besaß sie. Und so sehr sie es wollte, sie konnte sich nicht wehren. Das hier war nicht allein sein Werk. Sie hatte es auch gewollt.

Sein Körper lastete schwer auf ihr. Was er mit ihr machte, hatte nichts mehr mit Sex zu tun.

Zuerst hatte es ihr gefallen, doch dann, urplötzlich, hatte er die Kontrolle über sich verloren. Ein Teil von ihr begriff, daß das nicht stimmte, daß er sich noch immer unter Kontrolle hatte. Es machte ihr noch mehr Angst.

Sein Atem ging immer schneller. Es war nicht ihr Körper, der sie so sehr erregte, das war ihr klar. Sie hatten schon vorher miteinander geschlafen, aber so etwas hatte er nie mit ihr gemacht.

Immer schneller stieß er in sie hinein, bis er kurz vor dem Höhepunkt stand. Sie wollte, daß es vorbei war, aber noch mehr wünschte sie sich, keine Lust mehr zu empfinden.

Als er kam, schrie er wieder ihren Namen, den Namen der anderen Frau. Obwohl sie es nicht wollte, hatte auch sie einen Orgasmus.

Es dauerte lange, bis er schließlich von ihr herunter rollte. Langsam, fast beiläufig, zog er mit einem Finger die Linie ihres Kinns nach. Der Ausdruck in seinen Augen erfüllte sie mit tiefstem Entsetzen.

"Und jetzt... werden wir ein bißchen Spaß miteinander haben", kündigte er an, und die Kälte in seinen Augen strafte seinen sanften Tonfall Lügen.



Miss Parker versuchte, aus dem Strudel der Erinnerungen loszukommen, aber sie ahnte, daß noch eine weitere, sehr viel schlimmere Entdeckung auf sie wartete. Die kommenden Ereignisse betrachtete sie wieder aus Lucas Perspektive, verbannte sie aber sofort wieder aus ihrem Gedächtnis, so gut sie konnte. Zu ihrem Entsetzen kehrte sie dann noch einmal zu den Geschehnissen in Lyles Haus zurück, und diesmal teilte sie seine Perspektive.



Endlich. Es war nicht so gut wie in seiner Vorstellung, aber genug, um einen Teil der unerträglichen Spannung abzubauen. Dieses Mädchen sah ihr sogar ziemlich ähnlich, machte es noch ein bißchen besser als er gehofft hatte.

Sie gehörte ihm, war ihm hilflos ausgeliefert. Und so sehr sie es auch bestreiten mochte, es gefiel ihr.

Wie von selbst glitten seine Gedanken zu ihr zurück. Sofort steigerte sich seine Erregung, bis jeder andere Gedanke aus seinem Bewußtsein verschwunden war. In seiner Vorstellung war sie es, die sich unter ihm bewegte, ihn ganz in sich aufnahm, seinem Rhythmus folgte.

Er spürte, wie er dem Höhepunkt immer näher kam. Manchmal genügte schon der Gedanke an sie... Ein tiefes Stöhnen entrang sich seiner Kehle. Fast, er war fast da. Er konnte beinahe ihre weiche Haut fühlen, ihre Hände, die ihn tiefer in sie hineinzuziehen versuchten, ihr dunkles Haar in seinem Gesicht... ihre vollen Lippen, die sich immer wieder auf seine preßten, ihre Zunge, die seinen Mund erforschte... er hörte ihr leises Stöhnen, das ihn immer weiter erregte...

Sein Höhepunkt war unglaublich. Wieder und wieder kam er, und wieder und wieder schrie er ihren Namen. Die ganze Zeit hatte er ihr Gesicht vor Augen. Er mußte sie haben, er mußte einfach, auch wenn er wußte, daß er das nicht konnte, daß er es nicht durfte. Aber Vorschriften und Verbote hatten ihn nie interessiert...



Miss Parker schrie, als sie sich von Luca losriß und vor der Couch auf den Boden sank. Die Wellen des Orgasmus, den sie mit Luca und Lyle geteilt hatte, brandeten mit unverminderter Stärke durch ihren Körper. Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie weinte aus Mitleid für Luca. Sie weinte, weil das Gesicht, daß sie in Lyles Erinnerung gesehen hatte, ihr eigenes gewesen war.

Es war fast unmöglich für sie, die Kontrolle wiederzuerlangen. Mehr als alles andere auf der Welt wünschte sie jetzt, sie hätte diese Bilder nie gesehen und nie einen Blick in das Bewußtsein ihres Zwillingsbruders geworfen.

Übelkeit erfaßte sie. Sie würgte mehrmals, schaffte es aber, sich zu beherrschen. Nach einer Ewigkeit erlangte sie einen Teil ihrer Selbstkontrolle wieder. Luca, sie mußte nach Luca sehen.

Mühsam rappelte sie sich auf und zog sich auf die Kante der Couch. Luca hatte sich in eine fötale Position zusammengerollt. Auch über ihr Gesicht liefen Tränen. Ungebetene Erinnerungen an die Mißhandlungen, die Lyle ihr nach der Vergewaltigung zugefügt hatte, drangen in Miss Parkers Bewußtsein. Sie schob sie gewaltsam fort. Damit mußte sie sich später befassen.

"Luca..."

Ihre Stimme klang rauh und erschien ihr irgendwie unwirklich.

Tröstend zog sie die junge Frau in ihre Arme und wartete geduldig darauf, daß die Schluchzer, die sie schüttelten, wieder abebbten. Nach einer Ewigkeit nahm Miss Parker plötzlich eine Stimme wahr. Müde drehte sie den Kopf. Schwester Travis stand in der Tür und starrte sie mit einem undeutbaren Ausdruck an.

"Und jetzt werden Sie mir erklären, was zum Teufel hier gerade los war, Miss Parker."

 

 

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