Einsichten - Teil 2.2
von MissBit

 

 

Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
Am nächsten Tag
20:34


Ein langer Tag lag hinter Miss Parker. Alles, was sie sich jetzt noch wünschte, war etwas Ruhe. Aber ihre Gedanken taten ihr diesen Gefallen nicht. Seit Jarod am frühen Morgen aufgebrochen war, fühlte sie sich rastlos. Den ganzen Tag über war sie unkonzentriert gewesen. Es gelang ihr einfach nicht, sich abzulenken.

Nachdem sie eine Weile aus dem Fenster gesehen hatte, seufzte sie langgezogen, dann stand sie auf. Sie ging in die Küche, um sich etwas Tee zu kochen, doch dann änderte sie ihre Meinung. Tee würde ihr auch nicht weiterhelfen. Miss Parker ging zurück ins Wohnzimmer. Wieso fühlte sie sich wie ein gefangenes Tier? Vielleicht würde ein Spaziergang sie ein wenig auf andere Gedanken bringen...

Jemand klingelte an der Tür. Eigentlich war sie nicht in der Stimmung für Besuch, aber möglicherweise war es wichtig. Nach einem zweiten Seufzer ging sie zur Tür. Sydney stand draußen und lächelte schief.

"Guten Abend, Miss Parker. Ich hoffe, ich störe Sie nicht."

Sein Anblick erfüllte sie mit Erleichterung. Ein Gespräch mit ihm war jetzt genau das, was sie brauchte. Ihm konnte sie alles anvertrauen, was sie belastete. Vielleicht hatte er sogar den einen oder anderen Rat für sie.

"Sydney!" Es war ihr völlig egal, daß man ihr ihre Erleichterung deutlich anhören konnte. "Ich bin froh, daß Sie hier sind." Sie bat ihn herein, folgte ihm dann ins Wohnzimmer. Er setzte sich in einen der Sessel. Ein wissendes Lächeln umspielte seine Lippen.

"Wahrscheinlich ahnen Sie schon, warum ich hier bin", sagte er ruhig. "Sie schienen mir heute den ganzen Tag über irgendwie abwesend zu sein, also habe ich mich gefragt, ob Sie vielleicht irgend etwas belastet. Außerdem dachte ich, daß ich vielleicht endlich die Gelegenheit erhalte, den mysteriösen Fremden kennenzulernen, von dem Sie mir nichts erzählen wollen."

Seine gutmütige Neugier brachte sie zum Lachen - das erste Mal an diesem Tag. Zufrieden vertiefte sich Sydneys Lächeln.

"Schon viel besser", meinte er sanft.

"Ach, Sydney", seufzte sie. Sie ging ein paar Schritte in Richtung der Terrassentür, dann drehte sie sich wieder zu ihm um. "Kann ich Ihnen etwas anvertrauen?" fragte sie leise. Er sah sie aufmerksam an.

"Sie können mir alles sagen, Miss Parker."

"Es ist sehr persönlich. Sie müssen mir versprechen, daß Sie niemandem etwas davon sagen."

Sein Blick wirkte jetzt deutlich besorgt.

"Ist alles in Ordnung? Fehlt Ihnen irgend etwas?"

Miss Parker lachte leise. Ob ihre Mutter damals ein ähnliches Gespräch mit Sydney geführt hatte? Sie konnte es sich jedenfalls gut vorstellen. Catherine hatte ihm vertraut - und sie tat das auch. Sanft verschränkte sie die Hände vor ihrem Bauch.

"Ich bin schwanger, Syd."

Gespannt beobachtete sie seine Reaktion. Zuerst sah sie ungläubiges Erstaunen, dann zögernde Freude. Sie lächelte. Er stand auf und kam zu ihr, schloß sie fest in seine Arme.

"Miss Parker, das ist wundervoll!"

"Das ist es", bestätigte sie glücklich. Sydney ließ sie wieder los, trat ein paar Schritte zurück, um sie eingehend zu mustern. Offenbar schossen ihm tausend Fragen durch den Kopf.

"Seit... seit wann wissen Sie es?" wollte er schließlich wissen.

"Seit gestern", antwortete sie. Für einen Moment dachte sie nicht mehr an all das, was sie belastete. Sie konnte sehen, wie Sydney versuchte, sich zu einer Entscheidung durchzuringen.

"Was ist mit dem Vater?" erkundigte er sich in einem vorsichtigen Tonfall. Miss Parker schüttelte den Kopf.

"Er weiß es nicht."

Überraschung zeichnete sich auf Sydneys Miene ab. "Mir ist natürlich klar, daß mich das im Grunde genommen nichts angeht, aber ich möchte Ihnen helfen. Ich möchte, daß Sie glücklich sind. Ihrer Mutter konnte ich leider nicht mehr helfen. Bei Ihnen werde ich das nicht zulassen", erklärte er energisch.

"Es ist ziemlich kompliziert."

"Lassen Sie mich Ihnen helfen. Bitte, Miss Parker."

Seine Fürsorge schaffte es fast, ihre Sorgen zu vertreiben. Aber nur fast.

"Ich werde es ihm nicht sagen." Die Entschiedenheit in ihrer Stimme überraschte sie selbst ein wenig. Diesmal war es Sydney, der fast lautlos seufzte.

"Wenn das Ihr Entschluß ist, werde ich ihn respektieren", sagte er langsam. "Er liebt Sie, nicht wahr?" Sein Tonfall machte deutlich, daß er sich nichts anderes vorstellen konnte. Fast gegen ihren Willen mußte Miss Parker lächeln.

"Ja. Ja, das tut er."

"Trotzdem wollen Sie ihm nichts von dem Kind sagen."

Sie schwieg. Sydney neigte den Kopf leicht zur Seite.

"Wenn er Sie liebt, dann wird er auch Ihr Kind lieben."

"Wir haben nie über Kinder gesprochen. Er... hatte eine schwierige Kindheit. Ich glaube, im Moment wäre ein Kind nur eine Belastung für ihn."

Miss Parker sah ihn an. Er sah aus, als wollte er noch etwas sagen, überlegte es sich aber anders. Dann bot er ihr doch seinen Rat an.

"Es ist Ihre Entscheidung. Ich möchte Ihnen nur noch eines sagen. Reden Sie mit ihm. Es wird Ihnen beiden helfen. Und Ihrem Kind."

Sie wußte, daß er recht hatte, aber sie konnte es nicht - sie hatte zuviel Angst. Wie würde Sydney wohl reagieren, wenn er wüßte, daß es um Jarod ging? Bestimmt wäre er überrascht. Nein, sie konnte es ihm nicht sagen. Verdammt, warum mußte alles so schwierig sein?

"Miss Parker?"

Sydney hatte eine Hand auf ihren Arm gelegt. "Ist alles in Ordnung mit Ihnen?"

"Fürs erste schon." Es gelang ihr fast, sich selbst davon zu überzeugen.

"Möchten Sie, daß ich gehe?" erkundigte er sich sanft.

"Nein, bleiben Sie. Ich... möchte jetzt nicht allein sein."

Er nickte. "Dann bleibe ich bei Ihnen."



Das Centre
Blue Cove, Delaware
Am nächsten Tag
13:37


"Parker! Warte."

Miss Parker blieb stehen. Die Stimme gehörte Lyle. Der Gedanke an ein Gespräch mit ihm verursachte ihr eine Gänsehaut, trotzdem wartete sie, bis er sie erreicht hatte. Seit ihrer Rückkehr war sie ihm aus dem Weg gegangen, und auch er schien sie gemieden zu haben. Seine Miene war ausdruckslos, als er dicht vor ihr stehenblieb.

"Ich muß mit dir reden", sagte er gelassen.

"Nein."

"Es ist aber wichtig", beharrte er. Sie wich einen Schritt zurück.

"Ich will nicht mit dir reden", erwiderte sie betont schroff. "Ich will dich nicht einmal sehen, um ganz genau zu sein." Sie beobachtete, wie seine Fassade der Gelassenheit erste Risse bekam. In seinen Augen lag ein dringlicher Ausdruck, der sie beinahe veranlaßte ihm zuzuhören.

"Ich weiß über dein kleines Geheimnis Bescheid, Parker", ließ Lyle sie wissen. Eisiger Schrecken breitete sich blitzschnell in ihr aus. Niemand weiß von Jarod und mir, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Und nur Syd weiß von dem Kind. "Obwohl das mit dem Virus eine gute Tarnung ist, das muß ich dir lassen", fuhr ihr Bruder fort. Miss Parker wurde vor Erleichterung fast schwindelig. Es ging überhaupt nicht um Jarod.

"Verschwinde und laß mich in Ruhe", fauchte sie. Sein Wissen war nicht gefährlich für ihren Plan - dafür war es längst zu spät. Lyle kniff die Augen zusammen.

"Verdammt noch mal, Parker! Ich meine es ernst. Du mußt mir zuhören." Er griff nach ihrem Arm und hielt sie fest, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. Sie versuchte sich loszureißen, aber sein Griff war zu fest. Und dann passierte etwas Unvorhergesehenes. Der körperliche Kontakt stellte eine Verbindung zwischen ihnen her. Miss Parker versuchte verzweifelt, sich dagegen zu wehren, aber es war sinnlos.

Zuerst nahm sie nur Wortfetzen und einzelne Bilder wahr, dann wurde sie in einen Strudel aus Erinnerungen und Emotionen gerissen. Wie aus weiter Ferne hörte sie ihren eigenen, entsetzten Schrei - und dann, ebenso plötzlich wie es begonnen hatte, hörte es wieder auf. Lyle hatte sie losgelassen. In Miss Parker rangen Wut und Verwirrung um die Vorherrschaft. Die Wut gewann für den Augenblick.

"Faß mich nie wieder an!" schrie sie aufgebracht. Sie rang noch immer um Kontrolle, als sie in seine Augen sah. Überraschung spiegelte sich in seinem Blick wieder, aber sie war viel zu wütend, um jetzt darüber nachzudenken. Mit einer heftigen Bewegung drehte sie sich um und ließ Lyle hinter sich zurück. Ihre Umgebung nahm sie erst wieder wahr, als sie sich in Angelos Raum wiederfand. Eigentlich hatte sie in ihr Büro zurückkehren wollen, aber ihr Unterbewußtsein hatte sie an diesen Ort gebracht. Weil sie diesen Raum für einen der sichersten im ganzen Centre hielt, und weil Angelos Nähe ihr Trost spendete.

Angelo war nicht da, aber Miss Parker blieb trotzdem. Zitternd ließ sie sich auf einen Stuhl sinken. Die Augen geschlossen, dachte sie über das nach, was gerade geschehen war. Es hätte nicht passieren sollen. Eigentlich sollte sie in der Lage sein, so etwas zu verhindern.

Vermutlich war die Tatsache, daß er ihr Zwillingsbruder war, daran schuld. Dadurch wurde ein Kontakt vermutlich begünstigt. Miss Parker schlang die Arme um ihren Körper. In Lyle hatten starke Emotionen getobt - aber das beunruhigte sie nicht. Das, was sie aus seiner Erinnerung erfahren hatte, machte ihr viel mehr Angst. Sie bekommt noch eine letzte Chance - dann können Sie tun, was immer Sie für richtig halten. Diese Worte stammten von ihrem Vater. Von ihrem eigenen Vater.

Sie spürte eine Übelkeit in sich aufsteigen, die nichts mit ihrem Zustand zu tun hatte. Irgendwie schaffte sie es, dagegen anzukämpfen. Wie konnte er das zulassen? Wie konnte er so etwas sagen? Sie mußte sich wieder beruhigen. Diese ganze Aufregung war nicht gut für ihr Kind. Miss Parker konzentrierte sich auf das ungeborene Leben, das in ihr heranwuchs, sperrte alle anderen Gedanken aus. Jarods Kind. Ganz langsam normalisierte sich ihr Atem, und sie entspannte sich ein wenig.

Was blieb, war die Frage, warum Lyle mit ihr hatte sprechen wollen. Allerdings konnte sie auf die Antwort gut verzichten, wenn sie dadurch ein erneutes Zusammentreffen mit ihm verhindern konnte. Nachdem sie ein paarmal tief durchgeatmet hatte, stand sie auf, um zurück zu ihrem Büro zu gehen.

Glücklicherweise begegnete sie unterwegs niemandem, so daß sie sich ganz darauf konzentrieren konnte, die Fassung wiederzuerlangen. Vor ihrem Büro traf sie auf ihren Sekretär.

"Sam soll herkommen, und zwar sofort."

"Ja, Miss Parker."

Er eilte davon, und Miss Parker ging in ihr Büro. Sie mußte nicht lange auf ihren Sweeper warten. Schon nach wenigen Minuten klopfte er an die Tür und trat ein, als sie ihn dazu aufforderte. Abwartend bezog er vor ihrem Schreibtisch Aufstellung.

"Sam, ich habe einen Auftrag für dich. Ich will, daß du Mr. Lyle im Auge behältst. Und wenn er irgend etwas tun sollte, von dem du glaubst, daß es die Sicherheit des Centres - oder auch meine - bedroht, möchte ich, daß du einschreitest. Ist das klar?"

"Ja, Miss Parker." Falls Sam ihren Auftrag für merkwürdig hielt, so behielt er es für sich. Auf ihn war Verlaß; er würde sie zuverlässig beschützen.

"Gut. Dann kannst du jetzt gehen", entließ sie ihn. Er nickte ernst und verließ ihr Büro. Miss Parker lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Wie gerne würde sie jetzt nach Hause fahren, zu Jarod. Aber das ging nicht. Die letzte Phase ihres Plans war angelaufen, und deshalb mußte sie im Centre bleiben. Es gab noch so viel zu tun.



Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
Am nächsten Morgen
03:01


"... ist nicht mehr als eine Gefährdung für uns alle", zischte Raines verärgert. Mr. Parker verzog das Gesicht.

"Sie ist immerhin meine Tochter, Raines."

"Seit wann spielen Familienbindungen hier eine Rolle?"

"Ich werde meine Zustimmung nicht einfach so erteilen", donnerte Mr. Parker wütend. "Sie bekommt noch eine letzte Chance - dann können Sie tun, was immer Sie für richtig halten."

"Eine sehr vernünftige Entscheidung", keuchte Raines spöttisch, doch dann fuhr er ärgerlich fort. "Ihr Zögern wegen Catherines Einmischung hat uns viel Ärger eingebracht."

"Das wird nicht noch einmal passieren, dafür werde ich persönlich sorgen."

"Hoffentlich."

Raines drehte sich um und schlurfte zur Tür.

Miss Parker schreckte aus dem Schlaf hoch, zitternd und desorientiert. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie ihre Umgebung bewußt wahrnahm. Erst als ihr Blick auf Jarod fiel, der ruhig neben ihr lag und schlief, beruhigte sie sich. Glücklicherweise war er am späten Abend von seiner Suche zurückgekehrt.

Ein Alptraum. Nur ein Alptraum. Aber sie wußte, daß mehr dahintersteckte.

Vorsichtig stand sie auf. Sie verließ das Schlafzimmer und ging durch die Dunkelheit ins Wohnzimmer, zum Erkerfenster. Hier konnte sie in Ruhe nachdenken. So bequem wie möglich setzte sie sich hin und zog die Beine ganz eng an den Körper.

Ihr Traum war mehr als nur ein Traum - und er stammte nicht von ihr. Sie hatte eine von Lyles Erinnerungen gesehen. Sie bekommt noch eine letzte Chance - dann können Sie tun, was immer Sie für richtig halten. Miss Parker schloß die Augen. Das wird nicht noch einmal passieren, dafür werde ich persönlich sorgen.

Die Worte ihres Vaters ließen sich nicht verdrängen, so sehr sie es auch versuchte. Der Schmerz und die Enttäuschung, die sie auslösten, waren beinahe unerträglich. Wieso tat er ihr das immer wieder an?

Sie zwang sich, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Lyle. Er hatte das Gespräch zwischen Raines und ihrem Vater belauscht. War das der Grund gewesen, warum er mit ihr hatte sprechen wollen? Um sie zu warnen? Das war schwer vorstellbar, aber sie mußte diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Vielleicht war er aber auch einfach nur Raines Handlanger. Miss Parker versuchte, sich an Lyles Emotionen während ihres kurzen Kontakts zu erinnern. Es gelang ihr nicht, Ordnung in das Chaos zu bringen.

Ihre eigenen Emotionen drohten jetzt ebenfalls, außer Kontrolle zu geraten. Der Stress der letzten Tage und die Schwangerschaft forderten ihren Tribut. Sie holte tief Luft.


"Marine?"

Erschrocken riß sie die Augen auf. Jarod stand neben ihr, musterte sie besorgt. Er strahlte Wärme und Sicherheit aus. Miss Parker streckte wortlos ihre Arme nach ihm aus, und er zog sie in eine feste Umarmung.

"Was ist denn los?" fragte er nach ein paar Minuten, einen beinahe ängstlichen Unterton in der Stimme. Langsam und widerstrebend löste sich Miss Parker von ihm. Sie versuchte, ein beruhigendes Lächeln zustande zu bringen. Sein Gesichtsausdruck machte deutlich, daß ihr das nicht ganz gelungen war.

"Nur ein Alptraum, Jarod", wisperte sie. "Es geht mir schon wieder gut."

"Bist du sicher?" Er musterte sie zweifelnd.

"Mhm. Komm, laß uns wieder ins Bett gehen."

Jarod zögerte noch einen Augenblick, dann gab er nach. Er griff nach ihrer Hand, als sie zurück ins Schlafzimmer gingen.

"Willst du vielleicht darüber reden?" bot er als letzten Versuch an. Miss Parker lächelte liebevoll, schüttelte aber den Kopf.

"Nein. Halt mich einfach nur fest."

"Das wird mir ein Vergnügen sein", erwiderte Jarod sofort. Sie legten sich wieder hin, und Miss Parker schmiegte sich eng an ihn. Nur für einen kurzen Moment glitten ihre Gedanken noch einmal zu Lyle. Vielleicht sollte ich doch morgen mit ihm reden, überlegte sie, dann konzentrierte sie sich nur noch auf Jarods Nähe.



Das Centre
Blue Cove, Delaware
09:12


Obwohl die Sonne schien, fröstelte Miss Parker, als sie draußen vor dem Hauptgebäude des Centres stand. Sie bemühte sich, nicht mehr an den Alptraum von letzter Nacht zu denken. Er hatte sie ziemlich aufgewühlt, aber dank Jarods Nähe war sie später doch noch einmal eingeschlafen.

"Parker?"

Miss Parker drehte den Kopf und beobachtete die Gestalt, die vom Haupteingang auf sie zukam. Lyle. Vor etwas über einer Stunde hatte sie ihm einen Zettel auf den Schreibtisch gelegt und ihn wissen lassen, daß sie bereit war ihm zuzuhören. Und jetzt war er hier.

"Was wolltest du mir gestern sagen?" fragte sie ihn, als er heran war.

"Du bist also endlich vernünftig geworden", lautete seine Antwort.

"Ich war immer vernünftig. Jetzt bin ich... neugierig."

Er zuckte mit den Schultern. "Das genügt." Für einen Moment musterte er sie nur, und sie gewann den Eindruck, daß er etwas sagen wollte, sich aber dann im letzten Moment anders entschied. "Hier, ich muß dir etwas zeigen", sagte er und griff in die Innentasche seines Jacketts. Miss Parker sah, was er hervorziehen wollte - eine Waffe. Entsetzt trat sie einen Schritt zurück, und dann überschlugen sich die Ereignisse.

Von irgendwo her ertönte ein lauter Knall. Als ihr klar wurde, daß sie das Geräusch eines Schusses gehört hatte, war es schon zu spät. Wie in Zeitlupe senkte Lyle den Kopf. Ungläubig starrte er auf den Blutfleck, der sich auf seiner Brust ausbreitete und rasch größer wurde. Ein zweiter Schuß zerriß die Stille und traf ihn an der Schulter. Der dritte Schuß verfehlte ihn, da seine Knie nachgaben und er zu Boden sank.

Erst jetzt löste sich Miss Parker aus ihrer Starre. Beinahe panisch sah sie sich um, die eigene Waffe gezogen. Ihr Blick fiel auf Sam, der auf sie zu gerannt kam. Sam, den sie gebeten hatte, sie zu beschützen. Der Boden schien unter ihr wegzusacken, aber allein durch ihre Willenskraft hielt sie sich auf den Beinen.

"Miss Parker, ist alles in Ordnung mit Ihnen?" rief Sam atemlos, als er näherkam. Sie starrte erst ihn an, dann ihren Bruder, der mit geschlossenen Augen auf dem Boden lag, danach wieder Sam.

"Hol Hilfe", wies sie den Sweeper tonlos an. Er blieb stehen und maß sie mit einem verständnislosen Blick. "Du sollst Hilfe holen", wiederholte sie, lauter diesmal. "Sofort."

Sam drehte sich nach einem kurzen Blick auf Lyle um und spurtete zurück zum Haupthaus. Miss Parker sah auf Lyle hinab. "Ich sollte versuchen, Sydney zu holen. Er ist...", brachte sie hervor, doch Lyle unterbrach sie.

"Nein, bleib." Seine Stimme hatte jegliche Glätte verloren, wirkte nur noch angestrengt. Er öffnete die Augen. Die Endgültigkeit, die sie in seinem Blick sah, jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Mechanisch kniete sie sich neben ihn. Ihr fielen all die grausamen Dinge ein, die er anderen Menschen angetan hatte, und doch empfand sie jetzt... Bedauern. Mitleid. Lyle griff nach ihrer Hand, nahm sie in seine. Sie ließ ihn gewähren.

"Du... bist so weich", flüsterte er staunend. "Dad hat das nie begriffen. Er dachte immer, du seist so wie er. Aber du bist... anders. Vielleicht wie Mom. Weich. So voller Gefühl." Er machte eine Pause, rang rasselnd nach Atem.

"Lyle..."

"Nein, hör mir nur zu. Nur dieses eine Mal." Für einen Moment glaubte sie, den Hauch eines Lächelns zu erkennen. Sie nickte. "Gut."

"Zwischen uns ist einiges schief gelaufen, aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe, wollte ich..."

Miss Parker verzog das Gesicht. "Nicht. Lyle, ich kenne deine Empfindungen. Das ist falsch, du darfst nicht..."

"Ich habe nie gewußt, was Liebe ist", unterbrach er sie. Er drückte kurz ihre Hand. "Bis ich dich getroffen habe. Ich hatte immer das Gefühl, daß ich dich lieben könnte - aber ich wußte nicht, wie." Ihr Bruder schloß die Augen, das Gesicht eine Maske der Anstrengung. Etwas schnürte ihr die Kehle zu. Sie sollte nicht um ihn trauern, und doch...

"Ich habe die Simulation gesehen, die du gemacht hast. Eine Sicherungskopie von dem Band, das Sydney hat", fuhr Lyle plötzlich fort. "Und gestern... Mir wird erst jetzt klar, was da passiert ist. Ich habe so vieles gesehen." Seine Stimme wurde immer leiser, und es schien ihm schwerer zu fallen, die Augen offenzuhalten. Miss Parker verstand. Er versuchte ihr zu sagen, daß der Kontakt nicht nur einseitig gewesen war. Lyle hatte auch einen Teil ihrer Erinnerungen gesehen.

"Du und Jarod...", wisperte er rauh. "Ich hätte es schon längst wissen müssen. Er war dir immer so nah." Die Pausen zwischen seinen Sätzen wurden immer länger. Sein Blick ruhte für einen Moment auf ihrem Bauch. "Schade", brachte er mühsam hervor, "ich wäre bestimmt ein guter Onkel gewesen. Sogar für sein Kind."

"Lyle?" Unsicherheit ließ ihre Stimme vibrieren. "Es wird gleich jemand hier sein." Mit letzter Anstrengung richtete er sich auf, um sie anzusehen. Ein dünner Blutstrom rann aus seinem Mundwinkel. Sein Atem klang jetzt gurgelnd.

"Nicht traurig sein. Sieh nie zurück... macht alles nur schlimmer. So weich... Wir hätten... Ich... lie..." Er atmete ein letztes Mal aus. Sein Blick brach, und er sank leblos zu Boden. Miss Parker sah fassungslos auf ihn hinab. Ihre Hand ruhte noch immer in seiner. Es gelang ihr nicht, den Blick von ihren Händen zu lösen. Für einen kurzen Moment, einen viel zu kurzen Moment, hatte sie den Bruder gehabt, den Raines ihr vor so vielen Jahren weggenommen hatte. Das Monster, das Raines geschaffen hatte, war verschwunden und hatte sie sehen lassen, was hätte sein können.

Tränen rannen über ihr Gesicht, aber sie bemerkte es gar nicht. Behutsam löste sie ihre Hand aus seinem kalten Griff. Ihr Blick glitt zu der Waffe, die alles ausgelöst hatte. Sie starrte auf den Griff. Der Ring aus Feuer. Dasselbe Symbol wie auf der Waffe, mit der ihre Mutter ermordet worden war. Als sie die Waffe vorsichtig aus seiner Tasche zog, bemerkte sie, daß noch etwas darin steckte. Ein Zettel. Miss Parker nahm ihn an sich und ließ ihn zusammen mit der Waffe verschwinden.

Plötzlich wimmelte es um sie herum von Leuten.

"Was ist hier passiert?"

"Ist er tot?"

"Miss Parker?" Sie kannte diese Stimme. Als sie den Kopf hob, fiel ihr Blick auf Sydney, der jetzt neben ihr in die Hocke ging. "Miss Parker, ist alles in Ordnung mit Ihnen?"

Die Wärme in seinen Worten löste eine Sperre in ihr. Wortlos schüttelte sie den Kopf. Sydney legte ihr einen Arm um die Schultern, dann zog er sie sanft mit sich hoch. Aus der Ferne hörte sie das leise Quietschen von Raines Sauerstoffflasche. Wut stieg in ihr auf, vermischte sich mit ihrer Bestürzung und dem Gefühl des Verlusts. "Ich will weg von hier", brachte sie leise hervor.

"Gut, kommen Sie. Wir gehen in mein Büro. Da sind wir für eine Weile ungestört."

Er wollte sie wegführen, aber plötzlich versperrte ihnen ihr Vater den Weg. "Was ist passiert?" fragte er mit lauter, aufgeregter Stimme, das Gesicht weiß. Sydney stellte sich zwischen ihn und seine Tochter.

"Miss Parker steht unter Schock. Sie kommt jetzt mit mir. Ihre Fragen kann sie später noch beantworten - wenn es ihr besser geht", sagte er mit fester Stimme. Mr. Parker sah aus, als würde er gleich explodieren, doch dann drehte er sich einfach nur um und ging zu der Stelle, wo Lyle noch immer lag, jetzt umringt von medizinischem Personal.

Sydney brachte Miss Parker fort.

"Ist er tot?"

Sie nickte nur. Ja, ihr Bruder war tot. Aber wieso fühlte sie sich, als sei sie ebenfalls gerade gestorben? Widerstandslos ließ sie sich von Sydney wegführen, ganz in ihre Gedanken versunken.



Sydneys Büro
Das Centre
Blue Cove, Delaware
09:33


Die Luft in Sydneys Büro schien völlig stillzustehen. Miss Parker lag mit geschlossenen Augen auf der Couch, voller Besorgnis beobachtet von Sydney. Mit dieser Situation fertig zu werden, forderte einiges von ihr. Sie hatte sich noch nie so gefühlt. Als ihre Mutter gestorben war, hatte es sich völlig anders angefühlt. Damals schien die Welt stehenzubleiben, um dann langsam um sie herum zu zerbrechen. Doch jetzt... Alles raste, gab ihr keine Gelegenheit, einen ruhigen Gedanken zu fassen.

Miss Parker setzte sich auf. Sydney war da, war bereit ihr zuzuhören, ihr zu helfen. Sie mußte nur einen Anfang finden.

"Sydney, ist es möglich, daß man keine Ahnung hat, wie man sich fühlt? Oder wie man sich fühlen sollte?" fragte sie schließlich leise. Er stellte sich vor seinen Schreibtisch, lehnte sich an die Kante und sah sie an.

"Sie stehen unter Schock, Miss Parker", sagte er sanft. "Es ist ganz natürlich, wenn Sie Ihre Gefühle jetzt nicht analysieren können."

"Ich sollte aber gar nicht unter Schock stehen!" fuhr sie auf. "Ich sollte mich freuen", sagte sie nach einer kurzen Pause, fast unhörbar. "Lyle war eine Bestie. Wenn ich nur daran denke, was er Luca angetan hat..." Ihre Stimme brach. Sie weigerte sich zu weinen, hielt die Tränen zurück, die in ihren Augen brannten. Lyle hatte es verdient zu sterben. In seinem ganzen Leben hatte er wahrscheinlich nicht einmal etwas Gutes getan. Verdammt, wieso trauerte sie jetzt trotzdem um ihn? Sie hatte ihn gehaßt!

"Miss Parker?"

Sydneys sanfte Stimme unterbrach ihre Gedankengänge.

"Ich weiß, daß Sie ein... gespanntes Verhältnis zu Ihrem Bruder hatten. Aber er war Ihr Bruder."

Miss Parker schüttelte den Kopf. Der Hauch eines Lächelns zeigte sich für einen Moment auf ihren Lippen. "Nein. Ich habe ihn nie als meinen Bruder betrachtet. Er hat mir nichts bedeutet."

Als sie es aussprach, wußte sie, daß es nicht stimmte. Zwar hatte sie Lyle nie als ihren Bruder akzeptiert, aber trotzdem hatte er in ihrem Leben eine gewisse Rolle gespielt. Nur welche?

Sydney setzte sich neben sie auf den Rand der Couch.

"Jacob zu verlieren, war einer der schlimmsten Momente in meinem Leben", begann er leise. "Es gab so vieles, was ich ihm noch sagen und zeigen wollte. Solange er im Koma lag, konnte ich wenigstens noch glauben, daß es eines Tages wieder so sein könnte wie früher. Als er starb, mußte ich loslassen. Nicht nur ihn, sondern auch meine Hoffnung. Miss Parker, ich glaube, daß es Ihnen ganz ähnlich geht. Sie trauern nicht um Mr. Lyle. Sie trauern um Bobby, Ihren Zwillingsbruder, den Mann, der er hätte sein können, wenn Raines nicht gewesen wäre."

Sie sah ihn an. Er hatte recht. Im Moment schien es fast, als würde er ihre Gefühle besser verstehen als sie selbst. Aber vielleicht traute sie sich auch einfach nicht, sich die Wahrheit einzugestehen. Die Tatsache, daß ihr Lyle nicht gleichgültig gewesen war, beunruhigte sie etwas. Sicher stimmte es, was Sydney sagte, und sie trauerte nur um den Bruder, den sie hätte haben können. Trotzdem erschien es ihr einfach nicht richtig, angesichts von Lyles Tod Trauer zu empfinden. Schon wegen Luca.

"Raines hat jedem von uns den Bruder genommen", sagte sie, um sich selbst abzulenken. "Jacob starb an den Folgen eines vom Centre verursachten Unfalls, Lyle wurde von Raines zu einem gewissenlosen Monster gemacht. Und sogar Kyle starb durch seine Schuld. Ohne Lyle könnte er heute noch am Leben sein..."

"Ich kann verstehen, wenn Sie sich dadurch besser fühlen, Raines die Schuld an allem zu geben, aber im Grunde ist das sinnlos. Es führt zu nichts - höchstens zu noch mehr Haß." In Sydneys Stimme war eine Resignation zu hören, die Miss Parker vermuten ließ, daß er bereits ähnliche Gedanken gehegt hatte.

"Selbst wenn ich wollte, ich könnte Raines nicht noch mehr hassen, als ich es ohnehin schon tue. Allein der Gedanke, daß er bald für alles bezahlen wird, hält mich davon ab, meinen Gefühlen nachzugeben. Sein Tod nützt niemandem. Je länger er am Leben bleibt, desto länger muß er leiden."

"Es fällt mir schwer, mir Raines in einer Gefängniszelle vorzustellen", überlegte Sydney laut. Miss Parker schwieg und starrte ins Leere. Ihr Gespräch mit Sam fiel ihr wieder ein. Wenn sie ihn nicht gebeten hätte... Nein, das führte zu nichts. Die Vergangenheit blieb Vergangenheit. Auf einmal erinnerte sie sich an etwas. Sie stand auf und zog die Waffe hervor, die sie bei Lyle gefunden hatte.

"Miss Parker?" Sydney klang alarmiert.

"Keine Sorge, ich habe nicht vor, Amok zu laufen", beruhigte sie ihn. Ihre Stimme nahm einen tonlosen Klang an. "Diese Waffe habe ich bei Lyle gefunden. Sie ähnelt derjenigen, mit der Mom... erschossen wurde. Ich glaube, er wollte sie mir zeigen, aber ich weiß nicht, warum. Sam dachte, Lyle wollte..."

"Sie töten?" vollendete Sydney ihren Satz. Er stand auf und trat neben Miss Parker. "Dann hat Sam auf Ihren Bruder geschossen?"

Miss Parker nickte.

"Ich hatte Sam gebeten, auf Lyle... aufzupassen." Sie ließ ihren Atem in einem langen Seufzer entweichen. Der Zettel fiel ihr wieder ein. Zögernd holte sie ihn heraus. Erst jetzt wurde ihr klar, daß der Zettel vermutlich eigentlich das war, was Lyle ihr hatte zeigen wollen. "Oh nein..."

"Was ist los?"

"Der Zettel. Er wollte mir den verdammten Zettel zeigen." Sie lehnte sich gegen den Schreibtisch, weil sie ihren Beinen nicht mehr traute. Das Schwächegefühl war zurückgekehrt.

"Was steht drauf?" erkundigte sich Sydney. Miss Parker zuckte mit den Schultern.

"Ich habe keine Ahnung. Hier, lesen Sie ihn."

"Sind Sie sicher?"

"Ja."

Sydney entfaltete das Blatt, das nur einmal in der Mitte gefaltet war. Schweigend las er die wenigen Worte, dann ließ er langsam die Hand sinken.

"Also, was ist es?" fragte Miss Parker leise. Sie war sich nicht sicher, ob sie es wirklich wissen wollte.

"Miss Parker, ich weiß nicht, ob Sie...", begann er und brach dann mitten im Satz ab. Seine Stimme verriet seine Betroffenheit.

"So schlimm?"

Er antwortete nicht, sondern führte sie sanft zurück zur Couch.

"Lyle wollte Sie nicht töten", erklärte er dann. "Ich glaube vielmehr, daß er Sie warnen wollte." Mit deutlichem Widerstreben reichte er ihr den Zettel. Angst breitete sich in Miss Parker aus, als sie auf das Stück Papier in ihrer Hand hinunterstarrte. Es war ein Ausdruck von zwei E-mails.


'Sie hat ihre Chance gehabt - und versagt. Lösen Sie Ihr Versprechen ein. R.'


'Tun Sie, was immer Sie für richtig halten. Sie haben völlig freie Hand. P.'


Die wenigen Worte stachen wie eiskalte Messer in ihr Herz. Ihr Vater hatte Raines freie Hand gegeben - um sie zu töten. Er hatte die letzte Grenze überschritten, die einzige, von der sie geglaubt hatte, daß er sie respektieren würde. Sie hörte ein ersticktes Schluchzen - es mußte von ihr stammen. Diesmal machte sie sich nicht die Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Sydney zog sie tröstend in seine Arme, und sie ließ ihren Gefühlen freien Lauf.



Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
14:01


Ein Geräusch außerhalb des Hauses weckte Jarods Aufmerksamkeit. Mit einer geschmeidigen Bewegung erhob er sich, streckte sich, dann ging er zur Haustür, um einen Blick nach draußen zu werfen. Vor dem Haus stand ein Wagen, aus dem gerade zwei Leute ausstiegen. Jarod sah zuerst Sydney und dann Marine. Sofort regte sich Besorgnis in ihm. Irgend etwas war passiert.

Er sah, wie Sydney auf Marine einredete, aber sie schüttelte nur den Kopf, bis Sydney aufgab. Marine kam auf die Haustür zu, während Syd widerstrebend in das Auto stieg. Jetzt, wo sie näher kam, konnte Jarod erkennen, wie blaß sie wirkte. Blaß und schmerzerfüllt. Voller Ungeduld wartete er, bis Sydney außer Sichtweite war, dann öffnete er die Tür, um Marine entgegenzugehen.

Sobald sie ihn sah, hellte sich ihre Miene ein winziges bißchen auf. Wortlos zog Jarod sie in seine Arme. Sie weinte nicht, aber ihr Schmerz war trotzdem greifbar für Jarod. Ganz sanft brachte er sie ins Haus, führte sie ins Wohnzimmer.

"Was ist passiert?"

"Er ist tot." Ihre Stimme war nur ein tonloses Flüstern. Er wagte es kaum, die nächste Frage zu stellen. "Wer?"

"Lyle."

Jarod konnte nicht verhindern, daß er Erleichterung empfand. Außerdem fast so etwas wie grimmige Befriedigung. Der Mann, der seinen kleinen Bruder getötet hatte, war tot. Augenblicke später nahm seine Sorge um Marine wieder Überhand.

"Wie ist..." Er brach ab, begann kurz darauf noch einmal. "Du mußt jetzt nicht darüber reden." Sie atmete tief durch, während sie sich auf der Couch niederließ.

"Ist schon gut, Jarod. Ich muß die ganze Sache nur erst mal verarbeiten. Es war... ein Unfall. Nein, eher ein Mißverständnis." Marine atmete ein paarmal tief durch. Jarod griff nach ihrer Hand, nahm sie in seine. "Gestern hat Lyle versucht, mit mir zu reden, aber ich wollte ihm nicht zuhören", fuhr sie fort. Gott, war das wirklich erst gestern gewesen? "Ich wollte ihn nicht einmal in meiner Nähe haben. Also habe ich Sam gebeten, ein Auge auf ihn zu haben. Heute habe ich mich dann doch mit Lyle getroffen, weil ich das Gefühl hatte, daß er mir etwas Wichtiges sagen wollte. Das Treffen hat nicht lange gedauert. Sam hat ihn erschossen. Er dachte, Lyle würde mich bedrohen."

Jarod musterte sie gründlich. Lyles Tod war ihr nahegegangen, aber er hatte nur eine schwache Ahnung, warum. "Wie fühlst du dich?"

"Gute Frage", murmelte sie, dann sah sie ihn zweifelnd an. "Ich wünschte, ich hätte eine eindeutige Antwort darauf. Es... tut weh. Allerdings bin ich nicht sicher, warum. Lyle war eine Bestie, und die Welt ist ohne ihn sicher besser dran. Aber er war auch mein Bruder, jedenfalls bevor Raines ihn in die Finger bekommen hat. Gott, Jarod, kurz bevor er starb, da hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, den wahren Lyle zu sehen - nicht Raines Geschöpf, sondern den Sohn meiner Mutter. Für einen kurzen Augenblick konnte ich glauben, daß vielleicht doch etwas Gutes in ihm steckt."

Vorsichtig zog Jarod sie an sich. "Es tut mir leid, Marine." Er verstand, wie sie sich fühlte. Mit Kyle war es ihm ganz ähnlich ergangen. Sein Bruder hatte sich von dem abgewandt, was Raines aus ihm gemacht hatte, war wieder zu dem Mensch geworden, der er früher einmal gewesen war. Und dann, bevor Jarod richtig die Gelegenheit gehabt hatte, ihn wirklich kennenzulernen, ihm näherzukommen, war er gestorben. Oh ja, er wußte genau, wie sie sich jetzt fühlte. "Es ist völlig in Ordnung, wenn du um ihn trauerst. Trotz allem war dein Bruder - auch wenn er nie die Chance hatte, er selbst zu sein."

Während er sie in seinen Armen hielt, wurde ihm klar, daß es noch etwas gab. Lyles Tod war nicht das einzige, was sie belastete. Vielleicht war es besser für sie, gleich jetzt über alles zu reden.

"Was ist noch passiert?" fragte er ruhig. Marine sah ihn leicht erstaunt an, doch dann verzog sie die Lippen zu einem zarten Lächeln. Zärtlich berührte sie seine Wange.

"Es ist wirklich schön, jemanden zu haben, der einen so gut kennt", sagte sie. Ihm entging nicht, daß sie kurz zögerte.

"Komm schon, Marine. Ich kann dir nur helfen, wenn ich weiß, was dich belastet", erklärte er. Er drückte ganz leicht ihre Hand, spielte mit ihren schlanken Fingern. Sie sah auf ihre Hände hinab, dann seufzte sie schwer.

"Es ist Dad", flüsterte sie. Vages Entsetzen vibrierte in ihrer Stimme. Jarod spürte Zorn in sich aufsteigen. Was hatte dieser kaltherzige Bastard ihr jetzt schon wieder angetan? War es ihm denn wirklich egal, daß er seine Tochter immer wieder verletzte? Er würde so etwas niemandem antun, und schon gar nicht seiner eigenen Tochter. Da er seiner Stimme im Moment nicht traute, wartete er, bis sie weitererzählte.

"Ich weiß gar nicht, wieso es mich jedesmal wieder so überrascht." Sie klang mehr als resigniert. "Aber diesmal... Oh Gott, ich hätte ihm das nie zugetraut. Verdammt, er ist mein Vater!"

Es gelang Jarod, seine Wut unter Kontrolle zu bringen. "Was hat er getan?"

Marine schloß die Augen. Ihr enttäuschtes Vertrauen war trotzdem mehr als offensichtlich. Was auch immer Mr. Parker diesmal gemacht hatte - es mußte schlimmer sein als alles, was sich ein normaler Mensch vorstellen konnte. Es hatte sie völlig aus der Fassung gebracht.

"Lyle wollte mich vor ihm warnen. Ich habe bei ihm einen Zettel gefunden. Hier, lies ihn." Sie reichte ihm ein Stück Papier, das stark zerknittert war. Nachdem er die beiden Nachrichten darauf gelesen hatte, ahnte er auch, warum. Auch wenn sie das offenbar nie hatte erfahren sollen - er konnte trotzdem nicht glauben, daß Parker das getan hatte.

"Marine." Jarod hatte keine Ahnung, wie er sie trösten sollte. Eigentlich glaubte er auch nicht, daß es einen Trost für sie gab. "Ich weiß nicht, was ich sagen kann, damit du dich besser fühlst. Gott, es tut mir so leid." Er schüttelte fassungslos den Kopf. "Er verdient dich nicht. Du solltest versuchen, ihn zu vergessen."

"Er ist mein Vater."

"Ach ja? Er hat sich nie so verhalten. Wie oft hat er dich verletzt? Hat er je auf dich Rücksicht genommen? Marine, ich verstehe ja, daß du ihn nicht einfach aufgeben kannst, aber er ist nicht gut für dich."

"Ich weiß", wisperte sie. "Aber es tut trotzdem weh." Sie hielt ihre Tränen noch immer zurück. Jarod zog sie enger an sich.

"Ist schon gut. Laß einfach los." Mit einer Hand strich er beruhigend über ihren Rücken. Er konnte fühlen, wie verspannt sie war. "Mit der Zeit wird es leichter. Vertrau mir. Ich liebe dich." Seine Stimme wurde zu einem sanften Murmeln, bis sie nach einer Weile ganz verklang und er sie einfach nur noch festhielt.



Technikraum
Das Centre
Blue Cove, Delaware
Am nächsten Tag
07:10


Miss Parker trat hastig einen Schritt zur Seite, als eine Gruppe von Sweepern an ihr vorbeirannte. In den letzten 24 Stunden war es äußerst hektisch im Centre zugegangen. Sergejs Virus leistete ganze Arbeit, und Lyles Tod hatte für zusätzliche Aufregung gesorgt. Die straffe Organisation des Centres brach langsam, aber sicher zusammen. Raines stand kurz vor einem Hirnschlag. Er suchte fieberhaft nach dem - oder den - Schuldigen. Normalerweise hätte sie dieser Gedanke zu einem Lächeln veranlaßt, aber die Erlebnisse des letzten Tages bedrückten sie noch immer. Glücklicherweise hatte sie Jarod. Jarod half ihr sehr - durch seine Worte genauso sehr wie durch seine Nähe. Und dann gab es da noch ihr Kind...

Geistesabwesend wich sie einer zweiten Gruppe aus. Eigentlich war sie dankbar für die ganze Aufregung. Dadurch blieb ihr wenigstens eine Begegnung mit ihrem Vater erspart. Eine Zeitlang hatte sie heftige Gewissensbisse wegen ihm gehabt. Immerhin würde er im Gefängnis landen, sobald die Sache mit dem Centre abgeschlossen war. Aber seit gestern hatte der Gedanke durchaus etwas Reizvolles. Wenn er dort drin war, konnte er wenigstens niemanden mehr verletzen.

Sie erreichte den Technikraum. Erstaunlicherweise war es hier ziemlich ruhig. Nur Broots und Angelo hielten sich hier auf. Keiner von beiden sah sich nach ihr um. Die Männer waren viel zu sehr mit ihrer Arbeit beschäftigt. Miss Parker ging zu ihnen, stellte sich neben sie und musterte sie ausgiebig. Broots wirkte total übernächtigt. Immer wieder blinzelte er, und seine Haltung wirkte verkrampft. Sein Gesichtsausdruck war hochkonzentriert. Auch Angelo war konzentriert - er schien ganz in seinem Element zu sein. Bei ihm konnte Miss Parker keine Anzeichen von Schlafmangel feststellen.

"Wie kommen Sie voran?" fragte sie schließlich leise. Broots Kopf ruckte zu ihr herum.

"Gott, Miss Parker, müssen Sie uns denn so erschrecken?"

Für einen kleinen Moment blitzte ein Lächeln in ihren Augen auf. "Hören Sie endlich auf, so schreckhaft zu sein, Broots", neckte sie ihn. "Sagen Sie mir lieber, wie unsere Aktien stehen."

Er ließ seinen Atem langsam entweichen, dann grinste er.

"Besser, als ich es für möglich gehalten hätte. Es funktioniert, Miss Parker!"

Plötzlich wirkte er wie ein aufgeregter kleiner Junge.

"Schön, das zu hören", erwiderte sie trocken, aber seine Begeisterung begann, sie anzustecken.

"Angelo und ich haben die letzten beiden Tage damit verbracht, alle Daten zu löschen, die auf eine Verbindung zwischen dem Centre und uns hinweisen. In ein paar Stunden werden wir fertig sein. Dann müssen wir nur noch unsere Beweise an die Behörden übergeben." Broots neigte den Kopf leicht zur Seite. "Ich dachte, daß Jarod das vielleicht gerne übernehmen würde."

Miss Parker sah ihn nachdenklich an. "Ich werde ihn fragen. Sie sagten in ein paar Stunden. Wie viele genau?"

Er überlegte einen Augenblick. "Etwa sechs", antwortete er dann.

"Okay. Es wird eine Weile dauern, bis die Behörden reagieren. Laut Jarod sollten wir mit einer ersten Reaktion nicht vor drei Stunden nach Erhalt der Beweise rechnen. Ich möchte, daß wir alle dann längst hier raus sind. Damit meine ich in spätestens sieben Stunden. Sind Sie sicher, daß Sie alle Spuren beseitigt haben, die auf uns hinweisen?"

"So sicher wie es geht. Wir haben das gesamte Informationsnetz des Centres durchforstet und dabei soviel Schaden wie möglich angerichtet. Jarod hat unsere Arbeit überprüft. Wenn ihm nichts entgangen ist, sollten wir sicher sein." Broots zuckte mit den Schultern.

"Das muß genügen", entgegnete Miss Parker. Sie setzte sich neben Angelo an einen der Computer. "Dann ist es Zeit, die finanziellen Dinge zu regeln", murmelte sie mehr zu sich selbst. Interessiert sah Broots sie an. Nach einem Augenblick erwiderte sie seinen Blick. "Ich war in den letzten Wochen auch nicht untätig. Nach allem, was wir durchgemacht haben, steht uns doch wohl eine kleine Entschädigung zu. Das Centre ist im Besitz eines nicht unbeträchtlichen Vermögens. Ein kleiner Teil wartet nur noch darauf, auf sichere Konten überwiesen zu werden."

Der Techniker sah sie ungläubig an. "Sie haben dem Centre Geld gestohlen?"

"Ach, Broots. Gestohlenes Geld kann man nicht stehlen. Aber man kann es einem besseren Verwendungszweck zuführen. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Schließlich müssen Sie ja von etwas leben."

Er sah aus, als wollte er protestieren, doch dann überlegte er es sich anders. Mit einem Nicken wandte er sich wieder seiner Arbeit zu. Diesmal lächelte Miss Parker. Broots würde ihr fehlen.

Sie rief das Programm auf, mit dem sie die letzten Tage gearbeitet hatte, und gab die letzten Befehle ein. Binnen Sekunden wurde das Geld des Centres transferiert. In ein paar Stunden würde es niemanden mehr geben, der es vermißte.

Miss Parker stand auf. "Ich werde jetzt Sydney Bescheid sagen. Kommen Sie hier allein zurecht?"

Ein schwaches Grinsen erhellte Broots Gesicht. "Sicher. Wenn nicht, sind Sie die erste, die es erfährt."

Sie lachte leise. "Gut. Dann bis später." Bevor sie ging, wandte sie sich noch kurz an Angelo. "Bis heute abend", sagte sie leise, während sie ihm liebevoll eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht strich. Erst dann machte sie sich zum letzten Mal auf den Weg zu Sydneys Büro.



Sydneys Büro
Das Centre
Blue Cove, Delaware
09:51


Die große Wanduhr tickte wie eh und je vor sich hin, doch trotzdem schien sich ihr Rhythmus verändert zu haben. Sydney lächelte. Früher hatte sie jeden Tag im Centre in kleine Ewigkeiten eingeteilt. Jetzt zeigte sie nur noch die letzten Stunden bis zum Ende des Centres an.

Miss Parker war schon vor über einer Stunde wieder gegangen, nachdem sie ihm gesagt hatte, daß Broots seine Aufgabe fast abgeschlossen hatte. Sie wirkte noch immer leicht erschüttert auf ihn, aber das war nur verständlich. Im Laufe der Zeit würde sie alles verarbeiten. Ihre Schwangerschaft verlieh ihr Stabilität, und wer auch immer der Mann in ihrem Leben war, auch er schien einen guten Einfluß auf sie zu haben.

Das Telefon klingelte. Sydney hob ab.

"Sydney hier."

"Hallo, Sydney."

"Jarod!" Ja, natürlich. Das Ende des Centres stellte in ihrer beider Leben einen wichtigen Moment dar. Es wunderte Sydney nicht, daß Jarod jetzt mit ihm sprechen wollte.

"Sag jetzt bloß nicht, daß du überrascht bist, von mir zu hören."

Sydney lachte leise. "Das werde ich nicht." Er machte eine kurze Pause. "Jetzt ist es vorbei. Du bist frei, Jarod."

"Wir alle sind jetzt frei. Sag mir, Sydney, wie fühlst du dich jetzt?"

"Erleichtert", antwortete er sofort. "Die Zeiten, in denen das Centre Unheil angerichtet hat, sind vorbei. Ich habe schon fast nicht mehr damit gerechnet." Sydney schwieg, dachte an all die Dinge, die er Jarod sagen wollte. Dann wurde ihm klar, daß er nun endlich genug Zeit dafür hatte. Jarod hatte recht - sie waren alle frei. Nichts konnte...

Die Tür zu seinem Büro wurde aufgerissen. Mr. Parker stand in der Tür. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, war er nicht auf eine freundliche Unterhaltung aus.

"Syd?"

"Ich rufe gleich zurück", sagte er, dann legte er auf. "Kann ich Ihnen irgendwie helfen?" wandte er sich an Parker.

"Wo ist meine Tochter?"

"Ich habe keine Ahnung." Das stimmte sogar. Als Miss Parker gegangen war, hatte sie ihm nicht gesagt, was sie vorhatte. Aber selbst wenn er es gewußt hätte, er hätte es Mr. Parker bestimmt nicht verraten. Parker kniff die Augen zusammen. Sein wütender Blick prallte wirkungslos an Sydney ab.

"Ich warne Sie, Sydney. Legen Sie sich nicht mit mir an."

Sydney hob fragend die Brauen.

"Warum sollte ich? Hören Sie, wieso versuchen Sie es nicht in Miss Parkers Büro?"

Er wollte den anderen Mann nur noch so schnell wie möglich loswerden. Miss Parker war mit Sicherheit nicht in ihrem Büro, aber ihr Vater sollte das ruhig selbst herausfinden. Je schneller er ging, desto geringer war die Gefahr, daß Sydney dem Wunsch nachgab, seinen Emotionen freien Lauf zu lassen. Es gelang ihm nur mit Mühe, sich daran zu erinnern, daß der Mann gestern seinen einzigen Sohn verloren hatte. Nur das hinderte ihn daran, den letzten Rest seiner Höflichkeit aufzugeben.

In Parkers Gesicht arbeitete es. Schließlich nickte er langsam, dann drehte er sich um und verließ Sydneys Büro. Es war Sydneys letzte Begegnung mit dem alten Leiter des Centres.



Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
09:59


Ungeduldig starrte Jarod auf die Uhr. Als sein Handy klingelte, ging er sofort ran.

"Syd?"

"Ja, ich bin's, Jarod."

Erleichtert stieß er den Atem aus.

"Was ist passiert?"

"Oh, ich hatte nur einen kleinen Besuch von Mr. Parker. Er hat seine Tochter gesucht."

"Miss Parker..."

Jarod runzelte besorgt die Stirn. Nach Lyles Tod traute er diesem Monster alles zu. Durchaus möglich, daß er sie für den Tod seines Sohnes verantwortlich machte.

"Hast du eigentlich noch Kontakt zu ihr?"

Er biß sich auf die Lippen, um ein Lachen zu unterdrücken.

"Ja, gelegentlich", brachte er hervor. So gerne er Sydney auch eingeweiht hätte, er stimmte mit Marine darin überein, damit noch eine Weile zu warten. Wenigstens bis sich die erste Aufregung gelegt hatte.

"Ich mache mir ein wenig Sorgen um sie", gestand Sydney. Er zögerte kurz, bevor er fortfuhr. "Es scheint, daß es... jemanden in ihrem Leben gibt. Sie hat mir nicht viel von ihm erzählt, aber..."

"Ich glaube, du mußt dir keine Sorgen machen. Soweit ich das beurteilen kann, versucht er alles, um sie glücklich zu machen."

"Oh, gut." Ein neuerliches Zögern war ein deutlicher Hinweis darauf, daß es in dieser Hinsicht noch etwas gab, das Sydney beunruhigte.

"Syd?"

"Ja?"

"Ist sonst alles in Ordnung?"

Wieder ein kaum merkliches Zögern. "Ja. Ja, ich denke schon. Jarod, wenn das alles hier vorbei ist, sollten wir uns treffen."

"Sicher. In nächster Zeit ist es schlecht, aber in ein paar Tagen können wir uns sehen."

"Ich freue mich schon sehr darauf, dich wiederzusehen."

"Ich auch, Syd. Ich auch."

Beim Gedanken an Sydneys Reaktion lächelte Jarod amüsiert. Das versprach ein überaus interessantes Treffen zu werden.

Sie legten beide auf. Jarod lehnte sich auf der Couch zurück. Endlich war es vorbei. Jetzt konnte sein Leben von vorne beginnen - diesmal zusammen mit Marine. Diese Überlegung erfüllte ihn mit einem unvorstellbaren Glücksgefühl. Endlich wurde alles gut.



Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
14:32


"Gehen wir nach Hause?"

Angelos Frage riß Miss Parker aus ihren Grübeleien. Sie lächelte warm.

"Ja, Angelo. Wir gehen nach Hause."

"Das ist gut."

Es waren nur noch wenige Meter bis zu ihrem Haus. Während sie den Wagen parkte, dachte sie kurz an Broots. Er und Debbie bereiteten im Moment sicher schon ihren Aufbruch vor. Sie und Sydney würden noch ein wenig länger bleiben - nur um sicherzugehen, daß die Behörden auch wirklich reagierten. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern.

Sobald der Wagen stand, kletterte Angelo auch schon nach draußen. Miss Parker hielt ihn nicht auf. Die Umgebung war sicher, und es war schon so lange her, daß Angelo frei und außerhalb des Centres gewesen war. Niemand hatte ihren gemeinsamen Aufbruch bemerkt, dafür war das Durcheinander im Centre viel zu groß.

Als sie ebenfalls ausstieg, sah sie, wie sich die Haustür öffnete. Der Anblick von Jarod, wie er ihr entgegenkam, ließ ihr Herz schneller schlagen. Sie lief die letzten Meter zu ihm und ließ sich dann von ihm in die Arme schließen.

"Hallo, mein Herz", wisperte er liebevoll in ihr Haar. "Du hast mir gefehlt."

"Jarod, endlich."

Er drückte sie fest an sich, bevor er sich wieder von ihr löste, um einen Blick auf Angelo zu werfen, der die nähere Umgebung erforschte.

"Wir haben's geschafft, Marine!" rief er, hob sie hoch und wirbelte sie glücklich herum. Miss Parker lachte, ließ sich nur zu gerne von seiner Fröhlichkeit anstecken.

"Ja, das haben wir", bestätigte sie glücklich. Erst langsam wurde ihr klar, daß er tatsächlich recht hatte. Die Behörden leiteten wahrscheinlich schon die ersten Schritte gegen das Centre ein. Ihr Plan hatte wirklich funktioniert. Es gab nur noch eine Sache, die ihr ein wenig Unbehagen bereitete. Zwar hatte Broots alles gelöscht, was sie alle mit dem Centre in Verbindung bringen könnte, aber niemand hinderte Raines oder ihren Vater daran, ihre Namen zu erwähnen. Allerdings dürfte es den Behörden äußerst schwerfallen, Beweise für ihre Existenz zu finden. Und selbst wenn es ihnen doch gelingen sollte, gab es immer noch die Kronzeugenregelung. Was das Centre betraf, war alles geregelt.

"Marine? Kommst du?"

Jarod sah sie fragend an. Sie nickte und griff nach seiner Hand.

"Ja. Laß uns reingehen."

Es dauerte einen Augenblick, um Angelo dazu zu überreden, sie zu begleiten. Erst als sie ihm versicherten, daß er ab jetzt so oft er wollte nach draußen gehen konnte, folgte er ihnen nach drinnen.

Miss Parker ging hinter Jarod und Angelo, betrachtete die beiden liebevoll. Sie gehörten beide zu ihrer Familie. Zu der Familie, die sie sich selbst ausgesucht hatte. Der Gedanke veranlaßte sie zu einem Lächeln, das verblaßte, als sie daran dachte, daß Angelos Aufbruch schon für diesen Abend geplant war.

"Jarod?" fragte sie leise, als sie im Wohnzimmer angekommen waren. Angelo sah sich interessiert um und ging dann nach draußen auf die Veranda. Jarod kam zu ihr, legte einen Arm um ihre Taille.

"Hm?"

"Bleibt heute abend hier. Bring Angelo erst morgen fort, ja?"

Er sah sie forschend an. "Er wird dir sehr fehlen, habe ich recht?"

"Natürlich. Immerhin sind wir zusammen aufgewachsen."

"Wir werden ihn oft besuchen", versicherte Jarod. Sein Tonfall wurde weich. "Es ist früh genug, wenn wir morgen aufbrechen."

Miss Parker küßte ihn auf die Wange. "Kluge Entscheidung", wisperte sie dunkel, und Jarod zog sie enger an sich, um sie zu küssen. Der Moment endete viel zu schnell, als Angelo zurück ins Wohnzimmer kam, beinahe genauso aufgeregt wie ein kleiner Junge am Weihnachtsmorgen.

"Angelo ist frei!" verkündete er übermütig.

Jarod zog sich ein wenig von Miss Parker zurück, ein breites Grinsen auf den Lippen. "Das stimmt, mein Freund", bekräftigte er zufrieden. "Möchte vielleicht noch jemand eine heiße Schokolade?"

Miss Parker unterdrückte ein amüsiertes Grinsen. Manchmal schien es fast, als wäre er nie richtig erwachsen geworden. Eine Eigenschaft, die ihn umso liebenswerter machte. Angelo nickte begeistert, und sie zuckte mit den Schultern. "Wieso nicht?"

"Gut, kommt sofort." Jarod verschwand in der Küche. Mit einem Seufzen ließ sich Miss Parker auf die Couch sinken. Nach kurzem Zögern setzte sich Angelo neben sie. Er streckte eine Hand nach ihr aus. Sie ergriff sie. Angelo neigte den Kopf leicht zur Seite. Verschiedene Emotionen spielten über sein Gesicht, Emotionen, die sie als ihre eigenen wiedererkannte. Dann hellte sich seine Miene auf, spiegelte große Freude wieder.

"Tochter", sagte er. Miss Parker sog erstaunt die Luft ein. War es möglich, daß er das wußte? Dr. Simmerson hatte ihr erst gestern mitgeteilt, daß sie eine Tochter erwartete. Seitdem hatte der Gedanke sie nicht mehr losgelassen, also mußte es für Angelo fast offensichtlich sein. Sie überlegte kurz, ob sie ihn bitten sollte, Jarod nichts davon zu erzählen. Nein, dachte sie dann, es ist Zeit, daß er es erfährt. Eigentlich war es doch ziemlich dumm von ihr gewesen, es ihm nicht sofort zu sagen. Aber ein Teil von ihr hatte noch immer Angst davor.

Als Jarod zurückkehrte, nahm Angelo einen der Becher und ging zurück auf die Veranda. Die Aussicht schien ihn sehr zu faszinieren. Jarod ließ sich neben ihr nieder. Eine Weile betrachtete er sie nur, dann streckte er eine Hand nach ihr aus, um sie zärtlich an der Wange zu berühren.

"Also", fragte er, "hast du für heute abend irgend etwas Besonderes geplant?" Sie kannte diesen Tonfall genau und konnte nicht verhindern, daß sich ein Lächeln auf ihre Lippen schlich.

"Ach, weißt du, die letzten Tage waren für uns alle sehr anstrengend. Eigentlich wollte ich heute früh ins Bett gehen..."

Jarod erwiderte ihr Lächeln. "Gute Idee", murmelte er, während er ihr tief in die Augen sah. "Glaubst du, jetzt wäre es zu früh?"

Miss Parker lachte, fühlte sich zum ersten Mal seit Tagen wieder befreit und unbeschwert. Irgendwo im Hintergrund lauerten noch immer die schlechten Erfahrungen der letzten Zeit, aber sie begannen bereits langsam an Bedeutung zu verlieren. In Jarods Nähe schienen ihre Wunden schneller zu heilen, besonders die in ihrer Seele.

"Vielleicht ein bißchen", meinte sie belustigt. "Außerdem möchte ich auf keinen Fall die Abendnachrichten verpassen", fuhr sie ein wenig ernster fort. Jarod nickte.

"Ja, die dürften ziemlich interessant werden." Er seufzte übertrieben schwer. "Na gut, bleiben wir eben noch ein wenig auf. Was sollen wir mit dem Rest des Tages anfangen?"

Sie überlegte kurz. "Laß uns mit Angelo einen Spaziergang machen", schlug sie dann vor. "Draußen ist es für ihn mit Sicherheit interessanter als hier drinnen."

"Ja, warum eigentlich nicht?" Seine Augen leuchteten, und als sie ihn fragend ansah, vertiefte sich sein Lächeln. "Jetzt bekomme ich endlich mal mit eigenen Augen die Orte zu sehen, an denen du aufgewachsen bist", erklärte er. Miss Parker neigte den Kopf leicht zur Seite.

"Dad hat nicht viel davon gehalten, mich allein in der 'Wildnis' herumlaufen zu lassen. Gott sei Dank war Mom da anderer Ansicht. Aber wir sind auch hin und wieder gemeinsam losgezogen. Dann hat sie mir ihre Lieblingsplätze im Wald gezeigt." Ein warmes Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie an die gemeinsame Zeit mit ihrer Mutter dachte. Bevor Jarod anfangen konnte, sich Sorgen um sie zu machen, stand sie auf und zog ihn mit sich hoch.

"Komm, da draußen gibt es eine Menge zu sehen!" Es würde ihr guttun, gemeinsam mit ihm und Angelo Abschied von den Orten ihrer Kindheit zu nehmen.



Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
Am nächsten Tag
09:26


Angelo saß schon im Auto, eifrig damit beschäftigt, sich mit dem Autoradio vertraut zu machen. Miss Parker beobachtete ihn von der Tür aus. Sie hatten sich bereits voneinander verabschiedet, und er fehlte ihr jetzt schon. Jarod trat von hinten an sie heran.

"Bist du bereit?" erkundigte er sich sanft. Ohne sich umzudrehen, schüttelte sie den Kopf.

"Nein. Aber Hauptsache, Angelo ist es. Er wird sich dort wohl fühlen." Ihr fiel selbst der leise Zweifel in ihrer Stimme auf.

"Das wird er. Ich verspreche es dir, Marine. Und wenn nicht, können wir ihn jederzeit zu uns holen."

"Mhm", murmelte sie, noch immer nicht ganz überzeugt, aber bereit, Jarod zu glauben. Er trat um sie herum, schloß sie kurz in seine Arme.

"Ich werde noch zwei Tage bei ihm bleiben, um sicherzugehen, daß er sich gut einlebt", erklärte er. Miss Parker nickte. Sie hatten das alles schon besprochen und glaubten beide, daß es so für Angelo das Beste war. Nur so konnte er beginnen, ein eigenes Leben zu führen.

"Hey, es sind doch nur zwei Tage", versuchte er, sie aufzuheitern. Sie bemühte sich, zu lächeln.

"Ich weiß", erwiderte sie leise. "Aber du wirst mir trotzdem sehr fehlen, Jarod."

"Du mir auch. Ich liebe dich, Marine", sagte er zärtlich. Diesmal gelang ihr ein Lächeln, wenn es auch etwas traurig wirken mochte.

"Und ich liebe dich. Paßt gut auf euch auf, ja?"

"Versprochen."

Er zog sie ganz nah an sich, küßte sie lange und leidenschaftlich. Schon jetzt glaubte sie, ein undeutliches Sehnen in ihrem Kuß spüren zu können. Sie erwiderte den Kuß, ließ ihn dann nur sehr widerstrebend gehen.

Für einen Moment blieb er noch bei ihr stehen, den Kopf leicht an ihren gelehnt. "Wenn ich wieder da bin, führen wir ein langes Gespräch über uns, in Ordnung?"

"In Ordnung." Sie küßte ihn noch einmal, ganz leicht nur, auf die Lippen, dann sah sie zu, wie er zum Auto ging. Er winkte zum Abschied, und schon kurz darauf war der Wagen aus ihrer Sicht verschwunden. Mit einem Seufzen ging sie zurück ins Haus. Jarod hat recht, versuchte sie sich aufzumuntern. Es sind doch nur zwei Tage.

Um sich abzulenken, dachte sie an den gestrigen Abend zurück. Die Nachrichten waren tatsächlich interessant gewesen - es war sogar schon zu den ersten Verhaftungen gekommen.

Miss Parker ging nach draußen auf die Terrasse, sah hinaus aufs Meer. Die Identität des Triumvirats war nicht länger ein Geheimnis. Es hatte sie nicht sehr überrascht, herauszufinden, daß sowohl ihr Vater als auch Raines dazugehört hatten. Und vor wenigen Wochen hatte Lyle den dritten Platz eingenommen, nachdem alle Hindernisse vorher aus dem Weg geräumt worden waren. Sie war mehr als erleichtert, daß niemandem der Hauptschuldigen die Flucht gelungen war. Sogar Brigitte befand sich jetzt hinter Schloß und Riegel - ein befriedigender Gedanke. Nicht einmal die besten Anwälte konnten ihnen jetzt noch helfen. Dazu war die Beweislast einfach zu erdrückend.

Miss Parker verzog kurz das Gesicht, als sie daran dachte, daß sie Jarod noch immer nichts von ihrer Schwangerschaft gesagt hatte. Nun, er würde ja bald wieder da sein, dann konnte sie es ihm in aller Ruhe erzählen. Die Frage, wie er wohl reagieren würde, beunruhigte sie noch immer ein wenig, aber mittlerweile schob sie das auf ihre Hormone. Sie lächelte kurz. Wenigstens hielt sich bis jetzt die morgendliche Übelkeit in Grenzen. Offenbar würde sie eine sehr rücksichtsvolle Tochter bekommen.

Nach ein paar Minuten kehrte sie ins Haus zurück, ganz versunken in ihre Erinnerungen an die letzte Nacht. Oh ja, sie würde Jarod wirklich vermissen - auch wenn er nur für zwei Tage fort war.

Unschlüssig sah sie sich im Wohnzimmer um. Sollte sie vielleicht schon mal damit beginnen, einige Sachen einzupacken? Zwar hatte sie mit Jarod noch nicht darüber gesprochen, aber sie war ziemlich sicher, daß auch er Blue Cove so bald wie möglich verlassen wollte.

Als sie an ihrem Schreibtisch vorbeikam, sah sie einen Brief dort liegen. Es klebte bereits ein Briefmarke darauf. Jarod mußte ihn vergessen haben. Sie wollte ihn aufheben, erstarrte aber mitten in der Bewegung, als ihr Blick auf die Adresse fiel. Ein Schock der Erkenntnis durchfuhr sie, verwandelte sich binnen Augenblicken in eiskalte Angst.

Nia. Der Brief war an Nia adressiert. Miss Parker ließ ihn fallen, als hätte sie sich an dem Umschlag verbrannt. Nein. O nein, bitte nicht. Wie betäubt trat sie zurück, bis sie gegen einen Sessel stieß. Sie versuchte, nicht in Panik zu geraten, eine vernünftige Erklärung dafür zu finden. Es gelang ihr nicht. Verzweiflung erfüllte sie. Plötzlich, in Sekundenbruchteilen, hatte sich ihr ganzes Leben verändert.

Irgendwie gelangte sie in ihr Schlafzimmer. Das Bett war noch nicht gemacht, war noch genauso zerwühlt wie vor ein paar Stunden, als sie aufgestanden waren. Tränen füllten ihre Augen, aber sie blinzelte sie zurück. Wut flackerte in ihr auf, Wut auf sich selbst. Wie hatte sie nur so naiv sein können?

Sie setzte sich auf die Bettkante, ließ sich dann nach hinten fallen. War denn alles nur eine Lüge gewesen? Das konnte nicht wahr sein, es durfte einfach nicht wahr sein. Die Stimme ihrer Vernunft sagte ihr, daß es nicht so war, aber ihre Gefühle sagten etwas anderes. Es tat weh. Es tat mehr weh als alles, was sie bisher erlebt hatte. Ganz ähnlich hatte sie sich nach dem Tod ihrer Mutter gefühlt. Doch jetzt kam noch enttäuschtes Vertrauen zu dem unerträglichen Gefühl des Verlustes.

Jarod würde ihr doch so etwas niemals antun - oder doch? War das vielleicht seine Rache für all die vielen Male, die sie ihn verletzt hatte? Falls ja, dann funktionierte es hervorragend. Oh Gott, was sollte sie jetzt nur tun? Alles wäre etwas weniger schlimm, wenn sie wenigstens nicht auch noch schwanger wäre... Nein! Sie liebte dieses Kind, und das Wissen von seiner Existenz machte sie mehr als glücklich. Ihre Tochter war alles, was sie jetzt noch hatte.

Miss Parker zog die Beine an den Körper, rollte sich zusammen. Dann ließ sie ihren Tränen freien Lauf.




Als sie aufwachte, hatte sie Kopfschmerzen. Verwirrt fragte sie sich, was sie im Bett machte. Die Sonne stand hoch am Himmel. Es mußte schon Mittag sein. Dann fiel ihr alles wieder ein. Erneut durchzuckte sie heißer Schmerz. Sie faltete die Hände über ihrem Bauch.

"Jetzt gibt es nur noch uns beide", wisperte sie. Nachdem sie ein paarmal tief durchgeatmet hatte, setzte sie sich auf. Es gab keinen Trost, aber trotzdem durfte sie sich jetzt nicht gehenlassen. Sie mußte konzentriert nachdenken und die beste Lösung für ihre Tochter und sich selbst finden. Jetzt empfand sie beinahe Erleichterung darüber, daß sie Jarod nichts von ihrer Schwangerschaft gesagt hatte.

Selbst wenn er sie nicht mit Absicht getäuscht hatte - auch wenn sie sich das beim besten Willen nicht vorstellen konnte - konnte sie ihm nun nichts mehr von ihrer Tochter sagen. Jarod war überaus verantwortungsbewußt. Wenn er erfuhr, daß er eine Tochter hatte, würde er vermutlich bei ihr bleiben wollen. Und das könnte sie nicht ertragen. Eine Beziehung aus Pflichtgefühl würde für sie beide über kurz oder lang zur Qual werden.

Wieder drohten ihr Tränen in die Augen zu steigen, aber dafür hatte sie jetzt keine Zeit mehr. Sie zwang sich, nur noch an ihre Tochter zu denken. Früher oder später würde der Schmerz nachlassen, und bis dahin war ihre Tochter aller Trost, den sie brauchte.

"Verdammt, wir beide werden auch sehr gut allein zurechtkommen!" sagte sie leise. Tief in ihr drin wußte sie, daß sie das gar nicht wollte, aber im Moment sah sie keine andere Möglichkeit. Wieder und wieder sah sie Jarods Gesicht vor sich, sah die Liebe in seinen Augen. Sie schloß die Augen, versuchte, die ungebetenen Bilder zu verdrängen. Der Schmerz blieb, ließ sich nicht fortschieben. Wie hatte er sie auf diese Weise ansehen und sie gleichzeitig so sehr belügen können? Verdammt, es ergab einfach keinen Sinn! Aber das war häufig so mit Gefühlen - sie machten nur selten einen Sinn.

Miss Parker ging ins Badezimmer, ließ zuerst kaltes Wasser über ihre Hände laufen, spritzte sich dann etwas davon ins Gesicht. Dann machte sie sich daran, die Spuren der Trauer aus ihrem Gesicht zu waschen. Wenn sie Sydney besuchte, sollte er sich keine Sorgen um sie machen.

Sie starrte in den Spiegel. Wem hatte sie eigentlich etwas vormachen wollen? Nach allem, was zwischen ihnen passiert war, konnte Jarod sie doch unmöglich noch lieben. Vielleicht war das früher einmal der Fall gewesen - lange, bevor er Nia getroffen hatte. Er mußte sie sehr lieben. Obwohl der Gedanke sie mit unerträglichem Schmerz erfüllte, wußte sie, was sie tun würde. Sie würde Jarod freigeben. Offenbar war es das, was er wollte. Wenn er mit Nia glücklich werden konnte, würde sie ihm nicht im Weg stehen. Aber sie würde ihm nicht die Befriedigung geben, seine Rache an ihr zu vollenden. Bei Jarods Rückkehr würde sie nicht mehr hier sein.



Sydneys Appartement
Blue Cove, Delaware
15:18


"Und, was haben Sie jetzt vor, Miss Parker?" erkundigte sich Sydney sanft. Er saß auf der Kante seines Bettes und ließ seinen Blick über die Kartons und Kisten schweifen, die in seinem Schlafzimmer standen. Jetzt, wo das Centre keine Gefahr mehr darstellte, gab es für ihn keinen Grund mehr, in Blue Cove zu bleiben.

Miss Parker wandte sich halb vom Fenster ab. Die Sonne erhellte ihr Gesicht, ließ Sydney sowohl die Sorge der letzten Wochen, als auch die Erleichterung der letzten Tage erkennen. Außerdem gab es da noch das unübersehbare Leuchten in ihren Augen. Sie erwiderte seinen Blick und zuckte dann ganz leicht mit den Schultern.

"Ich werde ebenfalls fortgehen. Mich hält hier nichts mehr. Die wenigen Dinge, die ich von meiner Mutter habe, kann ich überallhin mitnehmen."

"Das klingt ziemlich... endgültig."

"Es ist Zeit für mich, mit der Vergangenheit abzuschließen. Wenn ich mich nicht sehr irre, raten Sie mir schon seit Jahren dazu, Syd", meinte sie mit einem leichten Lächeln.

"Schön, daß Sie endlich auf mich hören, Miss Parker", erwiderte er und stand auf. "Wissen Sie schon, wohin Sie gehen werden?", fragte er, während er in einem der Regale stöberte.

"Nein, darüber habe ich mir bis jetzt noch keine großen Gedanken gemacht", gab sie zu. "Ich wollte erst einmal diese ganze Sache mit dem Centre hinter mich bringen. Man sollte nie zu weit im voraus planen."

Sydney nickte zustimmend, dann fand er endlich, wonach er gesucht hatte.

"Na also, da ist er ja."

Zufrieden betrachtete er den Schlüsselbund in seiner Hand.

"Wofür ist der?" fragte Miss Parker neugierig.

"Das ist... war mein Notfallplan. Ein Ort, um sich für eine Weile vor dem Centre zu verstecken. Da das ja nun nicht mehr notwendig ist, und ich beschlossen habe, den Staaten eine Zeitlang den Rücken zu kehren, dachte ich, daß Sie vielleicht Verwendung dafür haben."

Miss Parker sah ihn sprachlos an.

"Kurz nachdem Jacob und ich angefangen haben, für das Centre zu arbeiten, haben wir ein Haus in Kanada gekauft. Es war Jacob, der darauf bestand, und mittlerweile bin ich sicher, daß Catherine ihn auf die Idee gebracht hat. Das Haus ist sehr geräumig und an einem See gelegen. Ein bißchen einsam vielleicht..."

Er zuckte mit den Schultern, und Miss Parker kam zu ihm und schloß ihn wortlos in die Arme.

"Danke, Sydney", murmelte sie an seiner Schulter. Nach der Auflösung des Centres mußte sich niemand von ihnen Sorgen um seine finanzielle Situation machen, aber die Geste rührte sie. "Ihr Angebot bedeutet mir sehr viel."

"Na ja, eigentlich wollte ich nur sichergehen, daß ich weiß, wo Sie sind, wenn ich von meiner Reise zurückkehre", sagte Sydney in einem halbernsten Tonfall. Miss Parker trat einen Schritt zurück und sah ihn gespielt vorwurfsvoll an, dann verzogen sich ihre Lippen zu einem warmen Lächeln.

"Ich erwarte, daß Sie uns besuchen, sobald Sie zurück sind", erklärte sie.

"Versprochen. Uhm, ich weiß, daß es mich eigentlich nichts angeht, aber... Werden Sie allein gehen?"

"Sie sprechen vom Vater meines Kindes", sagte sie mit einem Seufzen. Für einen kurzen Augenblick huschte ein verletzter Ausdruck über ihr Gesicht. Sorge regte sich in ihm, aber der Schmerz war nur so kurz zu sehen, daß er fast glaubte, sich geirrt zu haben.

"Ja. Sehen Sie, es ist sehr einsam da oben. Was ist, wenn Sie Hilfe brauchen?"

Sie berührte ihn sanft am Arm.

"Sydney, ich weiß Ihre Sorge um mich und mein Kind sehr zu schätzen, aber ich versichere Ihnen, daß ich sehr gut alleine zurechtkommen werde. Das ist eins von den nützlicheren Dingen, die ich im Centre gelernt habe."

Sydney sah ein, daß es keinen Sinn hatte, mit ihr darüber zu streiten. In manchen Dingen konnte sie unglaublich stur sein. Er hatte sie nicht überreden können, den Vater ihres Kindes über ihren Zustand zu informieren, und auch hier würde er keinen Erfolg haben. Aus irgendeinem Grund glaubte sie, daß es so für alle Beteiligten am besten war, und damit war die Sache für sie erledigt.

"Na schön", lenkte er ein. "Aber bitte versprechen Sie mir, daß Sie gut auf sich aufpassen werden, in Ordnung?"

"Natürlich, Syd."

Er ließ es dabei bewenden und hoffte, daß sie vernünftig genug war, ihre Meinung irgendwann einmal zu ändern.

"Und Syd?"

"Ja?"

"Mein Name ist Marine."



Sydneys Appartement
Blue Cove, Delaware
Zwei Tage später
18:08


Die letzten Kartons waren verladen, und nur noch wenige Dinge zeugten davon, daß hier einmal jemand gewohnt hatte. Sydney betrachtete die traurigen Reste seiner Einrichtung. Ebenso wie Miss Parker hatte er nicht vor, noch einmal nach Blue Cove zurückzukehren. Zu lange war er hier gefangen gewesen.

Am Nachmittag hatte er Miss Parker zum Flughafen gebracht und sich von ihr verabschiedet. Die letzten beiden Tage hatte er damit verbracht, ihr dabei zu helfen, ihren Haushalt aufzulösen und die Dinge, die sie behalten wollte, zu verpacken. Danach hatte er sich überzeugt, daß es Luca an nichts fehlte und sie in guten Händen war, solange er sich nicht um sie kümmern konnte.

Er war der letzte, der diesen Ort verließ. Broots und Debbie waren zuerst gegangen und hatten versprochen, sich bald zu melden. Sie alle stimmten stillschweigend überein, den Kontakt zueinander nicht abreißen zu lassen. In ein paar Monaten, wenn Gras über alles gewachsen war, würden sie sich treffen.

Unwillkürlich mußte Sydney lächeln. Wie würde Broots wohl reagieren, wenn er herausfand, daß Miss Parker ein Kind hatte? Bestimmt sehr überrascht. Schließlich war es ihm auch nicht anders ergangen. Vielleicht hatte es aber auch so kommen müssen. Sie war Catherine so ähnlich...

Ein leises Klopfen an der Tür riß Sydney aus seinen Gedanken. Er stand auf, um die Tür zu öffnen.

"Jarod!"

"Hallo, Syd. Darf ich reinkommen?"

"Natürlich."

Jarod ging an ihm vorbei und sah sich flüchtig um.

"Du gehst also auch fort", stellte Jarod fest.


"Ja, aber nur für eine Weile. Ich kann hier nicht länger bleiben."

"Verständlich. Wann wolltest du es mir sagen?"

"Jarod, ich..."

"Wann, Sydney?"

Sydney seufzte. Er hatte diesen Augenblick gefürchtet. Es kam ihm vor, als würde er Jarod im Stich lassen. Der rationale Teil von ihm wußte, daß das Unsinn war, weil Jarod hervorragend allein zurechtkam. Und dieser Teil wußte auch, daß Jarod ihm alles Gute wünschte und es für richtig hielt, von hier fortzugehen. Trotzdem...

Unschlüssig betrachtete Sydney seinen ehemaligen Schützling. Jarod sah nicht sehr gut aus. Er schien nervös und müde zu sein, ging außerdem unruhig durchs Zimmer. Besorgt runzelte Sydney die Stirn.

"Jarod, was ist los?"

"Wo ist sie, Syd? Und sag mir nicht, daß du es nicht weißt. Ich weiß, daß sie es dir gesagt hat."

Ein schwaches Deja-vu-Gefühl befiel Sydney und auf einmal wußte er, worum es ging. Um wen es ging.

"Du sprichst von Miss Parker."

"Von wem sonst?"

Plötzlich ergab alles einen Sinn. Gott, wie konnte ich nur so blind sein? fragte sich Sydney. Er schüttelte leicht den Kopf. Wenn er nur etwas früher darauf gekommen wäre, dann hätte er den beiden wahrscheinlich einiges Leid ersparen können.

"Sie ist in Kanada. Jacob und ich haben dort mal ein Haus gekauft."

"Kanada... Hat sie gesagt, warum sie fortgegangen ist?"

Sydney fühlte eine Woge des Mitleids für Jarod, aber er beschloß, Miss Parker - Marine, verbesserte er sich in Gedanken - die Erklärungen zu überlassen.

"Ich vermute, sie hatte ähnliche Gründe wie ich. Wahrscheinlich braucht sie etwas Abstand, um über alles nachzudenken", antwortete Sydney ausweichend. Plötzlich fiel ihm wieder der Schmerz ein, den er einen Herzschlag lang in Marines Zügen gesehen hatte. Irgend etwas mußte zwischen den beiden vorgefallen sein. "Gab es keine Anzeichen dafür, daß sie Blue Cove verlassen wollte?" Eigentlich hatte er fragen wollen 'daß sie dich verlassen wollte', aber er brachte es nicht übers Herz.

"Gott, Sydney, nein. Ich habe keine Ahnung, warum sie fort ist. Sie hat nicht einmal einen Brief oder irgend eine andere Erklärung zurückgelassen. Irgend etwas muß passiert sein..."

Sydney ging zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

"Jarod, hör mir zu. Sie liebt dich. Nach allem, was ich sagen kann, sogar sehr. Geh zu ihr und kläre alles - dann wird alles wieder in Ordnung kommen."

So etwas wie Hoffnung keimte in Jarods Blick auf, verdrängte einen Teil des Schmerzes und der Verwirrung. "Meinst du?"

"Ja", versicherte Sydney fest. "Das ist auch genau das, was sie will. Da bin ich mir absolut sicher."

Jarod lehnte sich erschöpft an eine Wand.

"Sie fehlt mir so", wisperte er. Er schloß für einen Moment die Augen. "Wohin wirst du gehen, Sydney? Werde ich dich auch nicht mehr wiedersehen?"

"Jarod, sieh mich an."

Der Pretender leistete seiner Aufforderung Folge. In seinem Blick lag nicht der Wunsch zu verletzen, sondern nur Angst davor, von allen verlassen zu werden, die er liebte.

"Ich werde die Staaten für eine Weile verlassen, vielleicht durch Europa reisen. Doch dann werde ich zurückkehren, und zwar zu dir und Marine. Ihr seid wie meine eigenen Kinder für mich - ich könnte euch nie zurücklassen. Dafür würdet ihr mir viel zu sehr fehlen."

"Danke, Sydney." Jarod kam zu ihm und schloß ihn kurz in seine Arme. "Danke für alles." Er trat ein paar Schritte zurück, ein verlegenes Lächeln auf den Lippen. "Tut mir leid, daß ich eben so... aggressiv war."

"Schon gut, Jarod. Ich kann gut nachvollziehen, wie du dich fühlst. Komm, laß uns zu meinem Auto gehen. Dort müßte ich noch eine Karte von der Umgebung des Hauses haben. Aber wenn nicht, bekomme ich vielleicht noch eine halbwegs brauchbare Beschreibung aus dem Gedächtnis zusammen."

Jarod erwiderte sein Grinsen eher halbherzig, folgte ihm aber nach draußen. Sydney hoffte, daß er und Marine die Schwierigkeiten zwischen ihnen schnell beseitigen konnten. Es schmerzte ihn, die beiden so leiden zu sehen. Aber wenn Jarod so geschickt vorging wie gewohnt, sollte alles in bester Ordnung sein, wenn er aus Europa zurückkehrte. Und wenn nicht, würde er persönlich dafür sorgen.



Haus von Familie Stiller
Hazen, North Dakota
Am nächsten Tag
15:56


Es war kühl in dem kleinen Vorort von Hazen. Der Wind frischte auf, als Miss Parker aus ihrem Auto stieg. Sie machte nur diesen einen Zwischenstop auf ihrer Reise, und das auch nur, weil die Angelegenheit sehr wichtig für sie war. Aber wahrscheinlich nicht so wichtig wie für die Eltern von Ruth Stiller.

Bevor sie zum Haus von Ruths Eltern gefahren war, hatte sie das Grab auf dem kleinen Friedhof besucht, der nur wenige Blocks entfernt von hier war. Dort hatte sie eine ganze Weile einfach nur gestanden und über das Leben nachgedacht, daß Ruth nie hatte führen können. Da sie einen Teil ihrer Erinnerungen kannte, konnte sich Miss Parker zumindest ein ungefähres Bild von den Wünschen und Hoffnungen der jungen Frau machen. Hoffnungen, die sich nie erfüllt hatten.

Vorsichtig öffnete sie das Gartentor, ging dann langsam auf das gepflegte Haus zu. Ein typisches Reihenhaus, hinter dem sich eine tragische Geschichte verbarg. Von ihren Nachforschungen wußte Miss Parker, daß die Stillers nach Ruths Tod umgezogen waren. Außer Ruth hatten sie noch einen Sohn, der jetzt in Kalifornien lebte.

Sie hatte lange überlegt, ob sie herkommen sollte. Durch ihr Auftauchen rührte sie an Geschichten, die seit langem abgeschlossen waren, brach vermutlich alte Wunden wieder auf. Aber sie fand, daß Ruths Eltern die Wahrheit verdient hatten. Miss Parker war sich sicher, daß Ruth es so gewollt hätte.

Nach kurzem Zögern klingelte sie an der Tür. Kurz darauf hörte sie drinnen Schritte, und dann wurde die Tür geöffnet. Eine alte Frau stand ihr gegenüber. Ihr Gesicht wirkte freundlich, offenbarte aber deutlich die Spuren vergangenen Leids. Das mußte Ruths Mutter sein.

"Mrs. Stiller?" erkundigte sich Miss Parker sanft. Die Frau neigte den Kopf leicht zur Seite.

"Ja. Kann ich etwas für Sie tun?"

Miss Parker lächelte. Ein Teil von ihr erinnerte sich für den Bruchteil einer Sekunde an Szenen aus einer Kindheit, die nicht ihre eigene gewesene war. Diese Frau war eine liebevolle Mutter gewesen.

"Ich bin Marine Parker. Sie kennen mich nicht, aber wenn es Ihnen nicht zuviel ausmacht, würde ich mit Ihnen gerne über Ihre Tochter Ruth sprechen."

Eine Mischung aus Überraschung und der Andeutung von Schmerz verzog die Züge von Mrs. Stiller. Sie überlegte, nickte dann und trat einen Schritt zur Seite. "Bitte, kommen Sie herein."

Miss Parker folgte ihr ins Haus. Mrs. Stiller führte sie ins Wohnzimmer und bot ihr dort einen Platz an. Ihre Augen beobachteten sie wachsam, strahlten aber auch Furcht vor dem aus, was ihre Besucherin zu sagen haben mochte.

"Sie sind zu jung, um Ruth gekannt haben zu können", stellte Mrs. Stiller fest.

"Das stimmt", gab Miss Parker sofort zu. "Trotzdem habe ich Informationen über sie." Sie beugte sich vor, erfüllt von Mitgefühl. "Mrs. Stiller, ich habe meine Mutter verloren, als ich noch sehr jung war. Ich kann Ihren Schmerz also zumindest teilweise nachvollziehen. Nach allem, was ich weiß, ist Ihre Tochter eine wunderbare junge Frau gewesen, die durch einen Fehler ihre Zukunft verspielt hat. Es tut mir sehr leid, daß ich Sie Ihren Schmerz noch einmal durchleben lasse, aber es gibt etwas, das Sie über Ihre Tochter wissen sollten."

Ruths Mutter sah sie lange an, ohne etwas zu sagen. Sie schien abzuwägen, was sie von Miss Parker halten sollte. Und Miss Parker stellte leicht erstaunt fest, daß es ihr sehr wichtig war, welche Meinung Mrs. Stiller von ihr hatte.

"Ruth ist lange tot. Was könnte so wichtig sein, daß Sie extra hierher kommen, um es mir zu sagen?"

"Bis vor kurzem habe ich für eine Organisation gearbeitet, die sich unter anderem mit der Erforschung der Vergangenheit beschäftigt hat. Bei meiner Arbeit bin ich auf Ihre Tochter gestoßen. Mrs. Stiller, Ihre Tochter war keine Mörderin. Sie mag einen Fehler gemacht haben - aber sie hat nie einen Menschen getötet."

Mrs. Stiller lehnte sich in ihrem Sessel zurück. "Ich wußte es", flüsterte sie. "Ich habe es immer gewußt." In ihrer Stimme war bestätigte Hoffnung zu hören und tiefe Zuneigung zu ihrer toten Tochter. "Sie sind nur hergekommen, um mir das zu sagen?" fragte sie dann.

Miss Parker nickte. "Ja. Wie ich schon sagte - ich fand, daß Sie das wissen sollten. Es tut mir leid, wenn ich Ihre Zeit verschwendet habe..."

Die alte Frau lächelte warm. "Nein, Miss Parker, das haben Sie nicht. Ganz im Gegenteil. Ich kenne nicht viele Menschen, die sich die Mühe gemacht hätten, nach so vielen Jahren eine Ungerechtigkeit richtigzustellen. Ich danke Ihnen."

"Sie müssen mir nicht danken, Mrs. Stiller. Ruths Schicksal hat mich sehr berührt. Ich wollte nicht, daß diejenigen, die sie geliebt hat, ein falsches Bild von ihr haben."

"Ich habe nie an meiner Tochter gezweifelt - aber es ist gut, Gewißheit zu haben."

Miss Parker erhob sich. "Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen."

"Ganz meinerseits, Miss Parker, ganz meinerseits." Mrs. Stiller griff nach ihrer Hand und drückte sie fest. "Danke", sagte sie noch einmal, voller Wärme. Ihre Besucherin lächelte leicht.

"Schon gut", erwiderte sie einfach. Jetzt war sie froh, daß sie hergekommen war. Ruths Mutter brachte sie zur Tür.

"Leben Sie wohl, Miss Parker", sagte sie mit einem sanften Lächeln. Sie erwiderte das Lächeln und drückte noch einmal Mrs. Stillers Hand.

"Auf Wiedersehen, Mrs. Stiller."

Nach einem letzten langen Blick drehte sie sich um, ging zurück zu ihrem Wagen. Nun stand nichts mehr zwischen ihr und Kanada. Einen Moment lang bedauerte sie diesen Umstand, aber dann kehrte ihre Entschlossenheit zurück. Ein neues Leben lag vor ihr, auch wenn es nicht ganz das war, was sie sich erhofft hatte.



Sydneys Haus
Lake Dauphin, Kanada
Am nächsten Tag
19:37


Die Dunkelheit brach langsam über die Landschaft herein, als Miss Parker die letzten Meter zu ihrem neuen Heim zurücklegte. Sydney hatte recht gehabt; das Haus lag wirklich sehr abgelegen. Das letzte Haus, an dem sie vorbeigekommen war, lag jetzt schon fast drei Meilen hinter ihr.

Schließlich tauchte ihr Haus hinter einer Biegung der Straße auf. Sie warf einen Blick durch die Bäume, konnte aber in der Dämmerung nicht viel erkennen. Miss Parker schaltete den Motor aus, ließ aber die Scheinwerfer noch einen Moment lang eingeschaltet, um wenigstens einen kurzen Eindruck von ihrem Zuhause zu bekommen.

Wie die meisten anderen Häuser in der Gegend auch war es aus Holz gebaut. Von außen wirkte es mit seinen zwei Stockwerken äußerst geräumig. An Platz würde es ihr also bestimmt nicht mangeln. Dafür aber an Gesellschaft, fuhr es ihr durch den Sinn. Ärgerlich verdrängte sie den Gedanken. Immerhin war sie hergekommen, um etwas Zeit für sich selbst zu haben.

Nachdem sie die Scheinwerfer auch ausgestellt hatte, griff sie nach der Reisetasche, die auf dem Beifahrersitz stand. Der Rest ihrer Sachen konnte bis zum nächsten Morgen im Auto bleiben. Sie stieg aus und ging zum Haus. Nach ein paar Sekunden fand sie den Schlüssel, den Sydney ihr gegeben hatte, und schloß auf. Es dauerte noch einmal ein paar Sekunden, bis sie den Lichtschalter fand. Skeptisch drückte sie darauf.

Das Licht ging tatsächlich an. "Oh, gut", murmelte Miss Parker erfreut. Neugierig sah sie sich um. Das Haus war in einem bemerkenswert guten Zustand. Die Möbel waren mit Planen und Tüchern abgedeckt, und es war kaum Staub zu sehen. Miss Parker erinnerte sich, wie Sydney ihr erzählt hatte, daß hin und wieder jemand im Haus nach dem Rechten gesehen hatte, für den Fall, daß er schnell einziehen mußte.

Sie ließ ihre Tasche im Wohnzimmer stehen, um sich ein wenig umzusehen. Zuerst ging sie in die Küche. Auch hier war es erstaunlich sauber. Als sie die Schränke öffnete, entdeckte sie sogar einige Vorräte. Es sah wirklich danach aus, als könnte sie hier hervorragend zurechtkommen.

Ihr Blick glitt zur Spüle. Wenn sich jetzt auch noch herausstellte, daß sie fließendes Wasser hatte, war alles in Ordnung. Der Wasserhahn gab zunächst nur ein gurgelndes Geräusch von sich, das Miss Parker dazu veranlaßte, enttäuscht das Gesicht zu verziehen, doch kurz darauf begann das Wasser zu fließen. Erleichtert drehte sie den Hahn wieder zu.

Als nächstes setzte sie ihre Inspektionstour im oberen Stockwerk fort. Nacheinander fand sie dort zwei Schlafzimmer, ein geräumiges Bad und eine Art Arbeitszimmer. Begeistert kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. Das Haus gefiel ihr von Minute zu Minute besser. Sie schloß die Tür ab, nahm ihre Tasche und ging zurück nach oben. Dort angekommen, entschied sie sich für das größere der beiden Schlafzimmer. Zum einen sah das große Bett darin viel gemütlicher aus, zum anderen lag es näher am Badezimmer.

Miss Parker lächelte über sich selbst. Eigentlich fühlte sie sich gar nicht so schlecht - solange es ihr gelang, nicht über das Ende des Centres, Lyle oder Jarod nachzudenken. Ihr Lächeln verschwand. Wahrscheinlich würde es noch eine ganze Weile dauern, bis sie das schaffte.

Geistesabwesend holte sie ein paar Sachen aus ihrer Tasche, um sich dann auf den Weg ins Badezimmer zu machen. Ein schönes, heißes Bad war alles, was sie jetzt noch wollte.



Sydneys Haus
Lake Dauphin, Kanada
Am nächsten Morgen
10:12


Ein sanfter Wind wiegte die Baumwipfel hoch über dem Boden. Miss Parker stieg aus ihrem Auto aus und sah nach oben. Die Sonne hatte die letzten Wolken vertrieben, schien jetzt ungestört vom Himmel. Es war erstaunlich, wie friedlich hier alles wirkte. Eine elementare Zufriedenheit breitete sich zögernd in ihr aus.

Sie nahm ihre Einkäufe aus dem Kofferraum und brachte sie ins Haus. Die letzte Nacht war nur kurz gewesen, obwohl sie früh ins Bett gegangen war. Gegen vier Uhr morgens war sie schweißgebadet aus einem Alptraum aufgewacht, nach dem sie nicht mehr hatte einschlafen können. Also war sie um fünf schließlich aufgestanden - auch deshalb, weil ihre morgendliche Übelkeit sie aus dem Bett getrieben hatte.

Trotz der langen Reise und des Schlafmangels steckte sie voller Energie, die sie dazu genutzt hatte, das Erdgeschoß auf Vordermann zu bringen. Als die Sonne aufgegangen war, hatte sie ihre Arbeit unterbrochen, um ihre restlichen Sachen aus dem Auto zu holen. Die wenigen größeren Dinge, die sie aus dem Haus ihrer Mutter mitgenommen hatte, würden erst in ein paar Tagen hier eintreffen.

Nachdem sie alles zu ihrer Zufriedenheit eingeräumt hatte, hatte sie versucht, etwas Kaffee zu finden. Ihre Suche war leider ergebnislos verlaufen, so daß sie mit Tee vorlieb genommen hatte. Als nächstes war sie dann in den kleinen Ort gefahren, der fast fünfzehn Meilen entfernt von ihrem Haus lag.

Sie lächelte beim Gedanken an ihren Einkauf. Hier in der Gegend kannte jeder jeden, daher erregte ein neues Gesicht natürlich Aufmerksamkeit. In der Ortschaft hatte sie bereits mehrere Bekanntschaften geschlossen, und für die nächsten Tage konnte sie sicher mit dem ein oder anderen Besucher rechnen. Noch vor ein paar Monaten hätte sie das sicher als aufdringlich empfunden, aber jetzt brachte sie die stumme Prüfung, der sie unterzogen worden war, nur zum Grinsen. In ein paar Wochen, wenn ihre Schwangerschaft nach außen sichtbar geworden war, würden die Leute sicher noch... hilfsbereiter werden.

Miss Parker räumte ihre Einkäufe in die Schränke und überlegte dabei, was sie als nächstes tun sollte. Das Wohnzimmer und die Küche waren soweit in Ordnung, also sollte sie sich vielleicht um das obere Stockwerk kümmern. Vorsichtige Anfragen im einzigen Lebensmittelgeschäft des Ortes hatten ergeben, daß sie keine Schwierigkeiten haben sollte, jemanden zu finden, der sich einmal in der Woche um die gröberen Arbeiten im Haus kümmerte. Und Mr. Morris, der Besitzer des Ladens, hatte ihr versichert, daß sie sich gerne jederzeit an ihn wenden konnte, wenn mit dem Haus irgend etwas nicht in Ordnung sein sollte.

Sie ging in ihr Schlafzimmer und betrachtete nachdenklich ihr Bett. Hoffentlich hielten ihre Schlafprobleme nicht allzu lange an. Natürlich gab es Möglichkeiten, etwas dagegen zu unternehmen, aber die wenigsten waren ohne Nachteile für ihr Kind. Von Schlafmitteln hatte sie ohnehin nie viel gehalten. Vielleicht sollte sie einfach so lange wach bleiben, bis sie zu müde für Alpträume war...

Nachdenklich ging sie zu dem großen Fenster, das nach Osten ging und die ersten Sonnenstrahlen des Tages einfing. Die Tatsache, daß es sich um ein Erkerfenster handelte, war ein weiterer Grund gewesen, warum sie sich für dieses Zimmer entschieden hatte. Sie setzte sich, sah hinaus auf die noch fremde Landschaft. Zu ihrer Rechten erstreckte sich hauptsächlich Wald; die meisten der Bäume schienen schon seit Ewigkeiten hier zu stehen. Auf der linken Seite schimmerte das tiefblaue Wasser des Sees, den sie bisher nur im Vorbeifahren gesehen hatte.

Miss Parker erhob sich wieder, um zurück nach unten zu gehen. Das Wetter war viel zu gut, um die ganze Zeit im Haus zu sitzen. Sie betrat die Terrasse, die man durch ein kleines Eßzimmer neben der Küche erreichte. Es war eine große Terrasse, die links und rechts in eine Veranda mündete, so daß das Haus von drei Seiten umfaßt war. Von hier hatte man einen atemberaubenden Blick auf den See. Eine ganze Weile lehnte sie einfach nur am Geländer, blickte hinaus auf das ruhige Wasser. Beinahe wie zu Hause, überlegte sie, schüttelte dann aber den Kopf. Das hier war jetzt ihr Zuhause. Ihres und das ihrer Tochter. Liebevoll strich sie über ihren Bauch. Nur noch ein paar Monate, dann würde sie eine Mutter sein... Der Gedanke war noch immer neu für sie, erfüllte sie aber gleichzeitig mit einer vertrauten Wärme. Wenn sie früher über ihre Zukunft nachgedacht hatte, hatten Kinder darin keine Rolle gespielt, doch schon jetzt konnte sie sich eine Zukunft ohne ihre Tochter nicht mehr vorstellen. Vor ein paar Tagen war auch ein Leben ohne Jarod noch unvorstellbar, schoß es ihr ungebeten durch den Kopf. Schmerz begleitete den Gedanken. Sie schloß kurz die Augen, versuchte, an etwas anderes zu denken. Doch dann beschloß sie, nicht länger davor wegzulaufen. Irgendwann mußte sie sich damit auseinandersetzen.

Miss Parker warf noch einen letzten Blick auf den See, bevor sie zurück ins Haus ging. Ein Spaziergang würde ihr vielleicht helfen, ihre Gedanken so weit zu ordnen, daß sie in Ruhe über alles nachdenken konnte.



Es war bereits später Nachmittag, als Miss Parker von ihrem Spaziergang zurückkehrte. Sie hatte sich zwar nicht verlaufen, aber die Entfernung unterschätzt, die sie auf dem Hinweg zurückgelegt hatte. Die Sonne begann bereits mit ihrem langsamen Abstieg, als Miss Parker die Tür aufschloß und ihr Haus betrat.

Nachdem sie ihre Jacke ausgezogen hatte, ging sie in die Küche, um etwas zu essen. Eigentlich hatte sie keinen Appetit, aber für ihr Kind war es wichtig, daß sie regelmäßig aß. Ihre Gedanken kreisten noch immer um ihre Mutter, über die sie während ihres Spaziergangs hauptsächlich nachgedacht hatte. Auch sie hatte geplant, den Vater ihres Kindes zu verlassen, um allein mit ihrer Tochter zu leben. In letzter Zeit hatte sie sich oft gefragt, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn ihre Mutter sie tatsächlich nach Europa gebracht hätte. Ihr war klar, daß solche Überlegungen nutzlos waren, doch trotzdem konnte sie sich nur schwer davon lösen.

Gedankenverloren stellte sie ihr Geschirr in die Spüle, um es später abzuwaschen. Sie ging nach oben in ihr Schlafzimmer und zog eine kleine Kiste unter ihrem Bett hervor. Darin befand sich alles, was ihr von ihrer Mutter geblieben war. Miss Parker zog ein Album und einen alten Teddybär aus der Kiste hervor, schob die Kiste dann zurück unter das Bett. Dann begab sie sich zurück nach unten, um es sich im Wohnzimmer gemütlich zu machen. Ihr Blick fiel auf den Kamin. Nun, es war zwar eigentlich nicht kalt, aber ein Kaminfeuer hatte etwas ungemein Tröstendes an sich. Holz war zur Genüge vorhanden, auch Anzünder lagen bereit, und so dauerte es nicht lange, bis sie ein Feuer in Gang gebracht hatte.

Anschließend machte sie es sich auf der Couch bequem. Sie nahm das Album vom Tisch, schlug es fast ehrfürchtig auf. Es war ihr Babybuch, das ihre Mutter auch noch weit über ihr Babyalter hinaus geführt hatte. Miss Parker war sich ziemlich sicher, daß ihr Vater nichts von der Existenz dieses Buches gewußt hatte - und selbst wenn, wäre es ihm höchstwahrscheinlich egal gewesen.

Catherine Parker hatte alle wichtigen Momente im Leben ihrer Tochter festgehalten. Ihre Geburt, Geburtstage, ihr erstes Wort, ihre ersten Schritte - alles war liebevoll aufgezeichnet worden. Dieses Buch war ihr wertvollstes Erinnerungsstück an ihre Mutter. Jarod hatte es ihr geschickt, nachdem sie von der Verlobung ihres Vaters erfahren hatte. Jarod...

Sie konnte nicht verhindern, daß sie immer wieder an ihn dachte. Dafür war er zu sehr ein Teil von ihr geworden. Gott, er fehlte ihr so. Verdammt, ihr blieben nicht einmal die Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit. Ständig war da der nagende Zweifel, ob er sie die ganze Zeit über belogen hatte, ob er in Wirklichkeit an eine andere Frau gedacht hatte. Miss Parker griff nach dem alten Teddybär, drückte ihn fest an sich. Als sie noch ein Kind gewesen war, hatte er ihr oft Trost geboten.

War es wirklich richtig gewesen, einfach fortzugehen, ohne noch einmal mit Jarod zu reden? Vielleicht gab es ja doch eine Erklärung... Jetzt würde sie es nie erfahren.

Tränen rannen ihr übers Gesicht. Sie hatte so viel verloren, und Jarod war der einzige gewesen, der sie wirklich verstanden hatte, der immer für sie da gewesen war. Wie hatte er das tun können? Alles, was sie jetzt noch von ihm hatte, war ihr Kind. Wie von selbst glitten ihre Hände über ihren Bauch.

"Tut mir leid, daß ich so traurig bin, Kleines", wisperte sie. "Aber es tut so weh - dein Vater fehlt mir sehr. Gott, ich liebe ihn so..." Ihre Stimme brach. Die Tränen brachten keine Heilung - noch nicht. Aber bald würden sie es hoffentlich tun.



Lake Dauphin, Kanada
19:51


Es war schon fast dunkel, als Jarod durch den Wald fuhr. Nur ein geringer Teil seiner Aufmerksamkeit galt der Straße. Seine Gedanken kreisten unaufhörlich um das bevorstehende Treffen mit Marine. Angst und Unsicherheit erfüllten ihn. Er verstand noch immer nicht, warum sie fortgegangen war. Ihm war klar, daß Sydney ihm nicht alles gesagt hatte, aber egal, wie sehr er ihn gefragt hatte, sein alter Mentor hatte geschwiegen.

Das Haus kam in Sicht. Jarod konnte das Licht durch die Bäume sehen. Noch gab es ein Zurück - aber das wollte er gar nicht. Alles, was er wollte, war, sie wiederzusehen und herauszufinden, was zwischen ihnen stand. Der Schmerz, den er empfand, war anders als alles, was er bisher gefühlt hatte. Die Trennung von ihr fügte ihm beinahe physischen Schmerz zu.

In den letzten Nächten hatte er so gut wie gar nicht geschlafen. Ständig hatte er sich den Kopf zerbrochen, was er falsch gemacht haben mochte. Nur den letzten Schritt hatte er nicht gewagt - sich als Pretender in sie hineinzuversetzen.

Er erreichte das Haus. Fast benommen schaltete er den Motor ab, blieb im dunklen Wagen sitzen. Jetzt, wo er hier war - so nah -, wurde seine Unsicherheit noch stärker, aber auch sein Wunsch, sie zu sehen. Jarod stieg aus und ging bis zur Tür. Nervös tastete er nach dem Schlüssel, den Sydney ihm gegeben hatte. Nichts hinderte ihn jetzt noch daran, einfach zu ihr hineinzugehen.

Sein Blick glitt zu dem Fenster neben der Tür. Er konnte sie sehen. Sie saß auf einer Couch, den Kopf gesenkt, einen Teddybär im Arm. Marine. Sein Herz schien für ein oder zwei Schläge auszusetzen.

"Marine", wisperte er.

Die Unsicherheit wich Entschlossenheit, als Jarod den Schlüssel hervorholte, um die Tür aufzuschließen.



Sydneys Haus
Lake Dauphin, Kanada
20:03


Das Feuer im Kamin knisterte leise. Miss Parker saß noch immer auf der Couch. Ihre Tränen waren versiegt, aber der Schmerz war noch genauso stark wie zuvor. Vielleicht sollte sie ins Bett gehen, doch der Gedanke an das große, leere Bett hatte nichts Verlockendes für sie.

Ein Geräusch an der Haustür ließ sie hochschrecken. Jemand war dort draußen. Und den Geräuschen nach zu urteilen, hatte dieser Jemand einen Schlüssel. War Sydney ihr doch gefolgt?

Sie dachte kurz daran, ihre Waffe zu holen, verwarf den Gedanken aber wieder. Niemand wußte, daß sie hier war, und mit einem einfachen Einbrecher konnte sie auch ohne Waffe fertig werden. Angestrengt lauschte sie. Wer auch immer ihr Besucher war - er zögerte kurz, bevor er allmählich die Tür öffnete. Miss Parker hielt den Atem an, spannte ihre Muskeln an.

Die Tür öffnete sich langsam. Zuerst nur einen Spalt breit, dann schließlich weit genug, um den Blick auf ihren unerwarteten Gast freizugeben. Es dauerte nur Sekundenbruchteile, bis sie ihn erkannte. Jarod. Ihre Gedanken überschlugen sich, und ihre ohnehin schon unruhige Gefühlswelt geriet vollends ins Schwanken.

Er blieb in der Tür stehen, sah sie einfach nur an. Sein Blick teilte ihr alles mit, was sie wissen mußte. Vor allem erkannte sie darin Ratlosigkeit, außerdem... Angst?

Sie fühlte sich wie erstarrt. Erleichterung drohte alle anderen Gefühle in ihr fortzureißen. Jarod war ihr gefolgt. Er war hier, um sie zu sehen.

"Marine?"

Seine Stimme war leise, verriet seine Unsicherheit. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis sie die Kraft fand, ihm zu antworten. Energisch erinnerte sie sich an den Umschlag, den sie gefunden hatte, daran, was er bedeuten mußte. So sehr sie es auch wollte - es gelang ihr nicht, sich davon zu überzeugen, daß er hier war, weil er sie liebte, weil er sie ebenso sehr vermißt hatte wie sie ihn.

"Hallo, Jarod", brachte sie leise hervor. Er weiß nicht, daß ich es herausgefunden habe, dachte sie plötzlich. Sie schloß kurz die Augen. Wieso fühlte sich das alles auf einmal so falsch an? Als sie die Augen wieder öffnete, hatte er sich nicht von der Stelle bewegt. Sein Blick ruhte immer noch auf ihr, forschend, fast flehend. Mitgefühl regte sich tief in ihr, aber sie ignorierte es. Jetzt hatte sie die Gelegenheit, sich von ihm zu lösen. Daß sie das eigentlich nicht wollte, spielte dabei keine Rolle.

"Wieso bist du hier?" erkundigte sie sich ruhig, obwohl in ihrem Inneren ein Sturm tobte. Fassungslos sah er sie an.

"Warum?" fragte er in einem Tonfall, der deutlich machte, für wie absurd er ihre Frage hielt. Er sah müde aus, müde und erschöpft, stellte Miss Parker besorgt fest. Und in seinen dunklen Augen spiegelte sich Schmerz. War es möglich, daß er...

"Sydney hat mir gesagt, wo du bist", erklärte er, taxierte sie abwartend. Ihre zögernde Freude darüber, ihn wiederzusehen, erlosch mit einem Schlag. Nun war ihr klar, warum er hier war. Sydney hatte sie verraten. Er hatte Jarod von dem Kind erzählt, und das war der einzige Grund dafür, warum Jarod ihr bis nach Kanada gefolgt war. Jegliche Hoffnung wich aus ihr. Sie spürte Tränen in sich aufsteigen, zwang sich mit ganzer Willenskraft, sie zurückzuhalten.

"Ich verstehe", sagte sie gepreßt. Es war Zeit, alles zwischen ihnen zu klären. "Du mußt dich nicht an mich gebunden fühlen", fuhr sie erstaunlich ruhig fort. "Du bist frei, Jarod, und kannst dein Leben jetzt dort verbringen, wo du willst - mit wem du willst."

Jarod starrte sie verständnislos an, während es in seinem Gesicht arbeitete. Verschiedene Emotionen spielten über sein Gesicht, spiegelten seine innere Zerrissenheit wider.

"Verdammt, Marine, was ist eigentlich los?" platzte es plötzlich aus ihm heraus. Erst jetzt bewegte er sich von der Tür fort, machte zwei Schritte auf sie zu. Alles an ihm machte deutlich, wie hilflos er sich fühlte. Sein Blick, seine Haltung, die Art, wie er seine Hände zu Fäusten ballte, um sie kurz darauf wieder zu entspannen. Ungläubig registrierte sie, daß auch er den Tränen nahe zu sein schien. Sie weigerte sich noch immer zu glauben, was ihr Herz längst als Wahrheit erkannt hatte.

"Ich liebe dich, Jarod", flüsterte sie. "Aber ich würde niemals von dir verlangen, daß du bei uns bleibst. Du solltest bei der Frau sein, die du liebst."

Er atmete ein paarmal tief durch. "Das bin ich doch, Marine. Bitte sag mir endlich, was los ist. Wenn ich etwas falsch gemacht habe..." Seine Stimme war nur ein kaum hörbares Flüstern, aber seine Worte erfüllten sie trotzdem, hallten laut wie Donner in ihr wider.

"Aber... was ist mit Nia?" hörte sie sich selbst fragen. Sie schien weit weg und gleichzeitig doch viel zu nah sein. Irgend etwas hinderte sie daran, alles klar zu sehen.

Die Verwirrung in Jarods Zügen steigerte sich noch. Es schien ihm schwerzufallen, nicht die Kontrolle zu verlieren. Er schloß kurz die Augen, schüttelte ganz leicht den Kopf. "Willst du mir sagen, daß das hier etwas mit Nia zu tun hat?" wollte er wissen, nur noch oberflächlich ruhig.

Zum ersten Mal fühlte Miss Parker so etwas wie Zorn in sich aufsteigen. Wie konnte er sie das fragen? Warum sonst hätte sie denn fortgehen sollen, wenn nicht, um ihn aus allen Verpflichtungen ihr gegenüber zu entlassen? Unfähig, zu antworten, nickte sie nur.

"Marine..."

Er drehte sich um und ging zur Tür. Panik erfüllte sie.

"Jarod!" Sie konnte ihn nicht einfach so gehen lassen. In diesem Moment erkannte sie, daß es unmöglich war. Sie brauchte ihn.

Jarod schloß die Tür, ohne sich zu ihr umzudrehen, lehnte sich dann für einen Augenblick gegen das kühle Holz. Als er sich dann zu ihr umwandte, zeigte sich beginnendes Verständnis in seinem Blick, außerdem Erleichterung. Er kam zu ihr, hockte sich vor ihr auf den Boden und nahm ihre Hände in seine.

"Marine", begann er, die Stimme weich, unendlich sanft, "ich liebe dich aus ganzem Herzen, aus tiefster Seele. Seit ich denken kann, nimmst du einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen ein, und eine Zukunft ohne dich ist für mich einfach unvorstellbar. Ich weiß nicht, was ich tun soll, um dir deine Zweifel an meiner Liebe zu nehmen - aber ich möchte es, mehr als alles andere. Nia ist keine Konkurrenz für dich. Ich habe sie zu einer Zeit getroffen, als mir mein Leben leer und freudlos erschienen ist. In ihr habe ich eine gute Freundin gefunden - mehr nicht. Sie war für mich da, als ich Trost gebraucht habe, aber sie hat niemals deinen Platz eingenommen. Niemand kann das. Meine Liebe gehört nur dir. Ich liebe dich, Marine. Und wenn ich dich verletzt habe, dann verzeih mir bitte - denn ich wollte es nicht. Ich könnte es gar nicht."

Seine Worte löschten jeden Zweifel, jeden Verdacht in ihr aus, ließen sie erkennen, daß sie einen Fehler gemacht hatte. Die Erleichterung, die sie empfand, war so stark, daß es fast schon schmerzte. Trotzdem gab es noch ein Sache, die sie klären mußte.

"Was ist mit dem Brief?" fragte sie beinahe ängstlich. Er sah sie verwirrt an, wirkte für einen Moment fast verzweifelt, doch dann hellte sich seine Miene auf.

"Du hast den Brief gesehen? Und deshalb gedacht, daß ich..." Seine Erleichterung war fast greifbar. "Oh Gott, Baby, ich wollte es dir sagen, aber ich habe einfach nicht mehr daran gedacht. Wenn ich bloß geahnt hätte..." Jarod lachte, fand auf diese Weise ein Ventil für seine aufgestauten Emotionen. Zärtlich fuhr er mit seinen Fingern über ihre. "Sie hat geheiratet, schon letzten Monat. Kurz, nachdem du und ich zusammengekommen sind, habe ich sie angerufen, ganz einfach, weil ich wissen wollte, wie es ihr geht. Ich wollte es dir sagen, aber ich war nicht sicher, wie du reagieren würdest. Dieser Brief, den du gefunden hast... Darin habe ich Nia und ihrem Mann nur viel Glück für die Zukunft gewünscht - weiter nichts."

Miss Parker fühlte sich so frei wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Wortlos zog sie ihre Hände aus seinen, legte sie zärtlich zu beiden Seiten seines Gesichtes, dann zog sie Jarod an sich, hielt ihn einfach nur fest.

"Es tut mir leid. Es tut mir so leid", wisperte sie mit tränenerstickter Stimme. Jarod schüttelte vorsichtig den Kopf.

"Das muß es nicht", erwiderte er leise. "Aber bitte versprich mir, daß du in Zukunft mit mir über so etwas sprichst. Du weißt, daß du mir vertrauen kannst. Was auch immer du fühlst, ich möchte es wissen, möchte es mit dir teilen, dir helfen, wo ich kann."

"Ich verspreche es dir." Sie küßte ihn ganz leicht auf den Kopf. "Ich liebe dich so sehr, Jarod. Ohne dich fühle ich mich nicht ganz. Ich brauche dich. Am liebsten würde ich dich nie wieder loslassen."

"Dann tu es nicht", entgegnete er. Für eine lange Weile hielten sie einander. Keiner von ihnen war bereit, ihre neu gewonnene Nähe so schnell wieder aufzugeben. Dann fiel Miss Parker plötzlich etwas ein. Widerstrebend löste sie sich von Jarod, der sie fragend ansah.

"Dann hat Sydney dir nichts gesagt? Ich meine, über uns?"

Verwundert sah er sie an. "Über uns? Nein." Leichte Besorgnis zeigte sich in seiner Miene. Diesmal war sie es, die befreit auflachte.

"Nein, Jarod, nicht über dich und mich. Was war ich doch für ein Idiot! Ich hatte Angst, es dir zu sagen." Sanft fuhr sie fort. "Ich meine ein anderes uns."

Gespannt musterte sie ihn. Zuerst bemerkte sie einsetzendes Verständnis in seinem Blick, dann vage Hoffnung. Ungläubig sah er sie an. Sie nickte.

"Ich bin schwanger, Jarod. Wir werden bald Eltern sein. Ich erwarte dein Kind - unser Kind."

Wilde Freude vertrieb auch die letzten Anzeichen des Schmerzes, den er in den letzten Tagen empfunden hatte, aus seinem Gesicht.

"Marine!"

Begeistert zog er sie mit sich hoch, schloß sie fest in seine Arme, ließ sie dann gleich wieder los, um ihr Gesicht zärtlich in seine Hände zu nehmen und ihr tief in die Augen zu sehen.

"Unser Kind", wisperte er überglücklich. Dann verzog er kurz das Gesicht. "Wieso hattest du Angst, es mir zu sagen? Gott, es gibt nichts, was ich mir mehr wünsche, als mit dir eine Familie zu gründen!"

Miss Parker lächelte verlegen. "Wie ich schon sagte, ich war ein Idiot. Schieb es einfach auf die Hormone", meinte sie mit einem leichten Schulterzucken. "Davon wirst du vermutlich im Laufe der Schwangerschaft noch mehr zu spüren bekommen", warnte sie ihn scherzhaft.

"Ich freue mich drauf", versicherte er ihr. Sie lachte leise.

"Ja, das sagst du jetzt! Möchtest du wissen, was es ist?"

Erstaunt sah er sie an, nickte nur.

"Es ist ein Mädchen", teilte sie ihm mit. Seine Reaktion übertraf alle ihre Erwartungen.

"Ein Mädchen", wiederholte er, fast verträumt. "Wir werden eine kleine Tochter haben!" Sein Blick glitt zu ihrem Bauch. Ganz sanft legte er eine Hand darauf. "Eine kleine Tochter..."

"Es ist noch viel zu früh, um etwas zu spüren", neckte sie ihn sanft. Als er zu ihr aufsah, raubte ihr das strahlende Lächeln in seinen Augen für einen Moment den Atem. Eine Träne lief ihm über die Wange. Sie wischte sie fort.

"Ich liebe dich, Marine. Ich liebe euch beide."

Dann zog er sie an sich, küßte sie, sanft, zärtlich. Doch schon bald vertiefte sich der Kuß, spiegelte ihre Leidenschaft und ihre Sehnsucht wider. Sie versicherten einander ihrer Liebe, ohne dabei auch nur ein Wort zu benutzen, ließen den Schmerz der Vergangenheit dabei hinter sich.



Sydneys Haus
Lake Dauphin, Kanada
Am nächsten Tag
09:09


Jarod öffnete die Augen, nicht ganz sicher, was ihn erwartete. Die Ereignisse des letzten Tages und der Nacht fielen ihm wieder ein. Er lächelte, öffnete seine Augen ganz. Marine.

Sie lag in seinen Armen, schlief tief und fest. Vorsichtig zog er sie noch enger an sich. Endlich. Ihre Nähe hatte ihm so sehr gefehlt. Liebevoll betrachtete er sie, spürte, wie sein Herz schneller schlug. Ganz egal, was die Zukunft bringen mochte, er würde nicht noch einmal zulassen, daß sie getrennt wurden.

Marine, die Mutter seines Kindes, seiner Tochter. Aufregung erfüllte ihn bei diesem Gedanken. Bald würde er ein Vater sein, gemeinsam mit der Frau, die er über alles liebte, ihr gemeinsames Kind großziehen. Ihre Tochter würde ein liebevolles Zuhause haben und all das, was sie selbst in ihrer Kindheit vermißt hatten. Eine Tochter... Er hoffte, daß sie Marine ähnlich sein würde, ein genauso unbeugsamer, liebenswerter Mensch wie sie.

Zärtlich küßte er sie auf die Stirn. Sie bewegte sich im Schlaf, verzog die Lippen zu einem leichten Lächeln, wachte aber noch nicht auf. In den letzten Tagen hatte Jarod viel über ihre Beziehung nachgedacht, aber erst gestern hatte er begriffen, daß es nicht genügte, einfach nur ineinander verliebt zu sein. Eine Partnerschaft bedeutete auch Arbeit. Zwischen ihnen gab es ein tiefes Verständnis, das es ihnen ermöglichen würde, das Vertrauen zueinander zurückzugewinnen, das sie im Laufe der Jahre verloren hatten. Er lächelte. Natürlich würde es auch schwierige Zeiten geben - aber auch darauf freute er sich, solange er sie zusammen mit Marine durchstehen konnte.

"Du grübelst schon wieder", hörte er auf einmal ein leises Murmeln. Marine hatte die Augen noch immer geschlossen, lächelte aber leicht.

"Nein", widersprach er, "ich habe nur Pläne für unsere Zukunft gemacht." Sein Tonfall wurde weich. "Hast du gut geschlafen?" Ihr Lächeln wuchs in die Breite.

"Besser denn je", sagte sie sanft. "Und du?"

"Ich habe überhaupt nicht geschlafen", gab er zu. Sie setzte sich auf und sah ihn überrascht an. Er grinste beruhigend. "Na ja, vielleicht ein bißchen", fuhr er fort, wurde dann ernst. "Ich konnte einfach nicht aufhören, dich anzusehen", meinte er mit einem Schulterzucken. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, strahlte tiefe Wärme aus.

"Jarod..." Sie sagte seinen Namen wie eine Liebkosung, die etwas tief in ihm berührte. Dann beugte sie sich zu ihm, küßte ihn zärtlich auf die Lippen. Er begann, den Kuß zu erwidern, schloß sie in seine Arme, aber sie zog sich plötzlich von ihm zurück.

"Entschuldige", war alles, was sie sagte, bevor sie sich ganz von ihm löste und hastig aufstand. Einen Moment lang sah er ihr verwirrt nach, dann folgte er ihr. Vor dem Badezimmer blieb er stehen.

"Marine?"

Er erhielt keine Antwort, aber nach ein paar Minuten kam sie wieder heraus, ein schwaches Lächeln auf den Lippen. "Dr. Simmerson meinte, daß die Übelkeit sich häufig nur auf die ersten drei Monate beschränkt", erklärte sie dann.

"Bist du in Ordnung?" erkundigte sich Jarod besorgt. Marine lachte leise.

"Sicher. Es ist nichts, womit Milliarden von anderen Frauen nicht auch schon fertig geworden sind. Ich werde es schon überstehen. Wie wäre es jetzt mit einem schönen Frühstück?"

Einen Moment lang sah er sie so erstaunt an, daß sie sich auf die Lippen beißen mußte, um nicht zu lachen. Dann nickte er zögernd. Er hatte hier und da schon die eine oder andere Bemerkung über das Verhalten Schwangerer gehört, aber selbst damit konfrontiert zu sein, verwirrte ihn doch etwas.

"Okay", entgegnete er noch immer etwas verunsichert. Sie sah ihn lange an, dann küßte sie ihn leicht auf die Wange, bevor sie sich auf den Weg nach unten machte.

"Sieh es einfach als Herausforderung an", riet sie ihm mit deutlich hörbarer Belustigung in der Stimme. Er sah ihr einen Moment lang nach, dann grinste er und folgte ihr nach unten. Offenbar lag eine sehr interessante Zeit vor ihm.



Sydneys Haus
Lake Dauphin, Kanada
16:29


Miss Parker trank ihren Tee aus und sah mit einem Seufzen zu der Kanne, die noch immer halbvoll war. Dr. Simmerson hatte ihr diese Mischung empfohlen, mit dem Hinweis, daß sie sich gut gegen Schwangerschaftsübelkeit bewährt hatte. Allerdings ließ der Erfolg bisher noch auf sich warten.

Sie verließ die Küche, ging durch das Eßzimmer hinaus auf die Terrasse. Jarod saß dort und sah auf den See hinaus. Als er sie hörte, drehte er sich zu ihr um und lächelte warm.

"Hey", begrüßte er sie leise.

"Willst du lieber allein sein?" erkundigte sie sich, während sie langsam um ihn herum ging, um sich neben ihn zu setzen. Sofort schüttelte er den Kopf. Miss Parker lächelte wissend.

"Natürlich nicht", antwortete er. Sie ließ sich neben ihn auf die Bank sinken, und er legte ihr einen Arm um die Schultern. "Es ist wunderschön hier."

"Mhm", stimmte sie ihm zu, gab ihrer Stimme einen abwesenden Klang. Jarod musterte sie fragend. "Du hast jetzt endlich die Chance, deine Familie zu finden", fuhr sie fort. "Vom Centre sollte es in dieser Hinsicht jedenfalls nichts mehr zu befürchten geben."

Jarod nickte. "Ich habe schon damit angefangen, nach ihnen zu suchen, aber nach allem, was passiert ist, dürfte es noch schwieriger sein, mit ihnen in Kontakt zu treten." In seiner Stimme hörte sie sowohl Bedauern, als auch Entschlossenheit.

"Vielleicht wird es nicht ganz so schwierig wie du glaubst", entgegnete sie geheimnisvoll. Als sie Jarods gespannte Miene sah, bekam sie Mitleid mit ihm und beschloß, das Geheimnis zu lüften. Diese Sache war viel zu wichtig für ihn, um ihn damit aufzuziehen. "Wir haben heute morgen Post bekommen." Sie zog den Umschlag hervor, der an sie beide adressiert war, und reichte ihn Jarod. Er nahm ihn neugierig entgegen.

"Von Sydney?"

"Nein. Der Brief ist von Charles."

Erstaunt sah er sie an. "Er weiß, daß wir hier sind?"

"Offensichtlich, ja. Du bist nicht der einzige in eurer Familie, der gut informiert ist. Na los, lies ihn", forderte sie ihn ungeduldig auf. "Es sind gute Neuigkeiten."

Sie beobachtete sein Gesicht, während er las und dachte an ihre eigene Reaktion zurück. Charles war tatsächlich gut informiert. Sobald er von dem bevorstehenden Feldzug gegen das Centre Wind bekommen hatte, war er in die USA zurückgekehrt und hatte Kontakt zu seiner Familie aufgenommen. Jarods Eltern und seine Schwester waren wieder vereint und warteten sehnsüchtig darauf, Jarod endlich wiederzusehen. Nun, da vom Centre keine Gefahr mehr ausging, stand einem Treffen nichts mehr im Wege.

Miss Parker teilte die Freude, die sie in Jarods Augen sah, als er am Ende des Briefs angekommen war. Fassungslos schüttelte er den Kopf.

"Ich... kann es kaum glauben", brachte er hervor.

"Glaub es ruhig. In ein paar Tagen wirst du deine Familie wiedersehen." Sie fuhr ihm liebevoll durchs Haar. "Dann erfährst du endlich, woher du kommst und wer du bist."

Er nickte abwesend, sah noch einmal hinunter auf den Brief. "Woher weiß er das alles?" fragte er dann, als er wieder aufsah. "Ich meine, er weiß sogar von uns."

Miss Parker zuckte mit den Schultern. "Er besitzt eine gute Menschenkenntnis. Und was uns angeht... Ich glaube, das wußte er sogar schon lange vor uns."

Jarod schien darüber nachzudenken. Schließlich breitete sich langsam ein Lächeln auf seinen Lippen aus. "Aber ich wette, er weiß noch nicht, daß er Großvater wird."

Auch Miss Parker lächelte. "Nein, bestimmt nicht. Ich freue mich schon auf sein Gesicht, wenn er es herausfindet."

"Ja, ich auch", meinte Jarod. Er sah aus, als sei ihm plötzlich etwas eingefallen. "Bitte warte hier einen Augenblick, ja? Ich bin sofort wieder da!" Ohne ihre Antwort abzuwarten, stand er auf und ging ins Haus. Miss Parker sah ihm überrascht nach. Was hatte er vor? Nun, sie würde es sicher gleich herausfinden.

Sie lehnte sich zurück, sah auf das ruhige Wasser des Lake Dauphin hinaus und ließ ihre Gedanken schweifen. In den letzten Wochen hatte sich nicht nur ihr Leben grundlegend verändert - auch sie selbst war nicht mehr dieselbe. Es gab vieles, was sie verloren hatte, aber das verblaßte, wenn sie daran dachte, was sie alles gewonnen und erreicht hatte. Jarod war bei ihr und liebte sie mit einer Kraft, die sie fast erschreckte. Aber mit jedem Tag fiel es ihr leichter, ihn an sich heranzulassen, ihr Innerstes für ihn zu öffnen. Und mit jedem Tag schien ihre Liebe für ihn zu wachsen, immer tiefer zu werden - ein Umstand, den sie mehr als begrüßte. Dann war da noch ihre Tochter...

Miss Parker dachte an ihre eigene Mutter und fragte sich unwillkürlich, ob sie ihrer Tochter eine ebenso gute Mutter sein konnte. Schon jetzt empfand sie ein überwältigende Liebe für ihr ungeborenes Kind, und sie war fest entschlossen, ihm die beste Mutter zu sein, die sie sein konnte. Auch wenn ihr diese neue Rolle ein wenig Angst machte - gemeinsam mit Jarod würde sie es schaffen. Er würde ein wundervoller Vater sein. Sie lächelte, als sie daran dachte. Ja, er würde ein phantastischer Vater sein.

Es gab wirklich vieles, wofür sie dankbar sein konnte. Von den wenigen Resten des Centres ging keine Bedrohung mehr aus. Zum ersten Mal, seit dem Tod ihrer Mutter, war sie wirklich frei. Niemand versuchte mehr, über ihr Leben zu bestimmen. Jetzt gab es nur noch die Zukunft, die sie selbst für sich gewählt hatte. Und in dieser Zukunft gab es vielleicht sogar wieder eine Familie, in der sie sich wohl fühlen konnte - wenn Jarods Familie bereit war, sie aufzunehmen...

"Diesmal bist du es, die grübelt", sagte Jarod plötzlich dicht neben ihr. Sie blinzelte und kehrte zurück in die Gegenwart. Er stand neben der Bank, einen Ausdruck in den Augen, den sie nicht deuten konnte. Eine Hand hielt er hinter dem Rücken verborgen, die andere streckte er nach ihr aus. Als sie danach griff, zog er sie hoch und führte sie zum Geländer der Terrasse.

"Jarod, was ist los?" fragte sie ihn, aber er lächelte nur, sah ihr tief in die Augen. Für eine Weile verlor sie sich in seinen dunklen Augen, erforschte die Tiefen seines warmen Blicks.

"Ich liebe dich, Marine", sagte er schließlich, in einem Tonfall, der sie mit tiefer Wärme erfüllte. "Ich möchte den Rest meines Lebens mit dir verbringen - jeden einzelnen Tag, jede Stunde davon. Du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben, und ich habe lange überlegt, wie ich dich davon überzeugen kann."

"Das mußt du nicht", begann sie, aber er unterbrach sie sanft.

"Ich weiß, aber ich möchte es. Es gibt etwas, das ich dir geben möchte... das ich dich fragen möchte..."

Plötzlich verwandelte er sich wieder in den hilflosen kleinen Jungen. Sie sah ihn mit großen Augen an, nicht ganz sicher, worum es ihm ging. Er lächelte ein wenig unbeholfen, dann zog er endlich die Hand hinter seinem Rücken hervor. Miss Parker sah darauf hinunter, während sich eine erste Ahnung in ihr regte. Eine kleine Schachtel ruhte in seiner Hand. Jarod öffnete sie umständlich, wobei er weitersprach. "Sicher erinnerst du dich noch daran, daß ich dir den Verlobungsring deiner Mutter geschickt habe. Das hier", sagte er und zeigte ihr die geöffnete Schachtel, "ist der Verlobungsring meiner Mutter."

Sprachlos sah sie auf den Ring in seiner Hand. Es war ein schlichter Ring mit einem kleinen Brillanten, aber in ihren Augen war es der schönste Ring, den sie je gesehen hatte. "Wo... wo hast du ihn her?" fragte sie ihn erstaunt. Sie sah ihn an. Tränen schimmerten in ihren Augen, aber sie bemerkte es gar nicht. Dafür war sie viel zu glücklich.

"Er war in dem Umschlag, den du aus England mitgebracht hast. Meine Mutter hat ihn meinem Vater gegeben, als er sie damals verlassen mußte - als Erinnerung. Ich glaube, du hattest recht. Mein Vater weiß wirklich gut über uns Bescheid."

Jarod sah sie an, mit soviel Liebe in seinem Blick, daß sie glaubte, ihr Herz würde jeden Moment aufhören zu schlagen. "Unsere Tochter wird in einer liebevollen Familie aufwachsen - ganz egal, wie deine Antwort jetzt lautet. Aber es würde mich unendlich glücklich machen, wenn du ja sagst. Marine, willst du mich heiraten?"

Er sah sie an, wagte es nicht einmal, zu atmen. Miss Parker war so von Glück erfüllt, daß sie für einen Moment die Augen schließen mußte. Nie in ihrem ganzen Leben hatte sie sich so glücklich gefühlt wie in diesem Moment. Sie öffnete die Augen wieder, erwiderte Jarods Blick, nahm dann sein Gesicht zärtlich in ihre Hände.

"Ich liebe dich, Jarod, mehr, als ich jemals mit Worten sagen könnte. Außer meiner Mutter ist mir nie ein Mensch so nahe gewesen wie du - und niemand hat mich je so gut verstanden. Du bist nicht nur ein Teil meines Lebens, du bist ein Teil von mir. Ohne dich wäre ich nicht vollkommen. Ja, Jarod, ich will - es gibt nichts, was ich mir mehr wünsche."

"Marine..."

Er schlang seine Arme um sie und küßte sie, machte jedes weitere Wort überflüssig.



Epilog
Zehn Monate später
Sydneys Haus
Lake Dauphin, Kanada
22:11


Jarod stand vor der Wiege, die er vor sechs Monaten gebaut hatte. Sein Blick ruhte voller Bewunderung auf dem kleinen Wesen, das darin schlief. Catherine, seine kleine Tochter, die ihrer Mutter mit jedem Tag ähnlicher wurde.

"Willst du die ganze Nacht hier stehen?" hörte er plötzlich Marines leise, amüsiert klingende Stimme hinter sich. Sie trat von hinten an ihn heran und schloß ihn in ihre Arme. Er legte seine Hände auf ihre, als er antwortete.

"Ich mußte sie einfach noch einmal ansehen", erklärte er ebenso leise, um ihre Tochter nicht zu wecken. Marine stellte sich neben ihn, um ebenfalls einen Blick in die Wiege zu werfen.

"Ich weiß, was du meinst. Es ist wie ein Wunder. Erst jetzt fange ich an zu verstehen, wie meine Mutter sich gefühlt haben muß."

Jarod zog sie enger an sich und küßte sie auf die Stirn. Seit der Geburt ihrer Tochter klang nur noch selten Traurigkeit in ihrer Stimme, wenn sie von ihrer Mutter sprach. Aber Jarod wußte, daß sie die Tatsache bedauerte, daß Catherine ihre Enkelin niemals kennenlernen würde.

"Sie hat deine Augen, ist dir das schon aufgefallen?" fragte er. Sie sah ihn an und verzog dabei belustigt das Gesicht.

"Jarod, alle Babys haben blaue Augen."

"Aber nicht dieses besondere Blau", widersprach er. "Außerdem ist sie mittlerweile schon aus dem Alter raus, in dem die Augenfarbe sich noch ändert."

Marine sah nachdenklich in die Wiege, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Als sie ihn wieder ansah, funkelten ihre Augen.

"Weißt du, ich hätte nichts dagegen, in der näheren Zukunft einen Sohn zu haben...", ihr Lächeln vertiefte sich, "der dann deine Augen hat."

Ihre Worte erfüllten ihn mit einer Wärme, die untrennbar mit ihrer Nähe verbunden war.

"Das klingt wundervoll", murmelte er, während er tief in ihre Augen sah. Sie verschränkte die Hände in seinem Nacken und zog ihn ein wenig zu sich herunter, um ihn zärtlich zu küssen. Nach einer Weile löste sie sich von ihm, bevor er die Gelegenheit bekam, den Gefallen zu erwidern.

"Ich habe mit Ben gesprochen", erklärte Marine so plötzlich, daß Jarod fragend die Augenbrauen hob. "Hast du gewußt, daß er einen Zwillingsbruder hatte? Er starb, als Ben noch klein war. Wenn er also wirklich mein Vater sein sollte..."

Jarod wußte, worauf sie hinaus wollte. Die Chancen standen in dem Fall mehr als gut, daß sie ebenfalls Zwillinge bekamen. Er lächelte.

"Vielleicht sollte ich noch eine zweite Wiege bauen..."

"Klingt nach einer guten Idee. Und jetzt... kommst du mit ins Bett?"

Er beugte sich zu ihr, so daß seine Lippen fast ihr Ohr berührten.

"Natürlich", wisperte er.

Gemeinsam blieben sie noch einen Moment neben der Wiege stehen und betrachteten ihre schlafende Tochter, dann verließen sie das Kinderzimmer. Ganz automatisch schlug Jarod den Weg zum Schlafzimmer ein, aber Marine griff nach seiner Hand und zog ihn mit sich.

"Ich dachte, du wolltest ins Bett?"

"Ich hab's mir anders überlegt. Es ist eine schöne Nacht."

Jarod lachte leise und folgte ihr. Sie führte ihn nach draußen, auf die Veranda. Er setzte sich auf einen der bequemen Stühle und zog sie dann auf seinen Schoß.

"Du denkst über morgen nach, stimmt's?" erkundigte er sich sanft.

Sie nickte fast unmerklich, den Blick unverwandt auf ihren Ehering gerichtet. "Ich freue mich sehr darauf, alle wiederzusehen. Sydney, Broots, Debbie, Ben, deine Eltern und deine Schwester... Sie sind meine - unsere - Familie. Aber wehe, du erzählst das Broots", sagte sie lachend.

"Niemals", versicherte Jarod ebenfalls lachend. "Aber ich fürchte, er weiß es schon."

"Ja", meinte sie mit einem gespielt resignierten Seufzer. Dann sah sie Jarod an, und das Funkeln war in ihre Augen zurückgekehrt. "Ich bin wirklich froh, daß Catherine so viele Menschen hat, die sie lieben und sich um sie kümmern. Sie wird nie etwas über das Centre erfahren."

"Und das verdanken wir dir." Jarod lächelte und küßte sie.

"Oh, ich würde eher sagen, daß Broots, Sergej und Tommy der Dank gebührt. Sie haben die Hauptarbeit getan. Wie auch immer, wir werden den morgigen Tag sicher sehr genießen."

"Wenn wir rechtzeitig aufwachen", gab Jarod zu bedenken, während er erfolglos versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken.

"Catherine wird uns mit Sicherheit pünktlich wecken, mein Herz. Aber vielleicht sollten wir wirklich langsam schlafen gehen."

Statt einer Antwort schloß Jarod sie fest in seine Arme.

"Ich liebe dich, Marine", sagte er sanft.

"Und ich liebe dich, Jarod", lautete ihre Antwort, die ein wenig schläfrig klang. Sie blinzelte ein paarmal, dann sah sie ihn mit einem Blick an, der ihre tiefsten Gefühle widerspiegelte. "Ich bin unsagbar froh, daß du hier bist. Du und Catherine, ihr seid mir das Wichtigste im Leben. Ich liebe euch so sehr. Zum ersten Mal, seit meine Mutter tot ist, habe ich wieder eine richtige Familie."

"Marine", wisperte Jarod bewegt. "Ich werde immer für dich - für euch - da sein, das weißt du. Ohne euch könnte ich nicht mehr leben. Ihr seid alles für mich. Ich liebe dich", wiederholte er noch einmal mit Nachdruck, einfach, weil er das Gefühl hatte, daß sie das jetzt brauchte.

Sie küßte ihn, lang und leidenschaftlich, dann erhoben sie sich wortlos und kehrten ins Haus zurück. Ganz egal, was noch vor ihnen liegen mochte - niemand konnte ihnen je wieder nehmen, was sie endlich gefunden hatten. Gemeinsam gingen sie jetzt durch ein Leben in Freiheit, verbunden durch eine Liebe, die mit ihnen gewachsen war, seit sie Kinder gewesen waren - und die jeden Tag größer wurde, bis nichts sie mehr aufhalten konnte.


ENDE



An alle, die bis hierher durchgehalten haben: Ich hoffe, es hat euch gefallen. Falls ja, laßt es mich doch bitte wissen, und falls nein, habe ich auch für Beschwerden ein offenes Ohr:

Missbit@web.de


An dieser Stelle möchte ich mich noch bei Swik bedanken, die mir erlaubt hat, den Vornamen auszuleihen, den sie sich für Miss Parker ausgedacht hat und der meiner Meinung nach am besten zu ihr paßt.

Außerdem gilt mein Dank allen, die mich unterstützt haben und ganz besonders Nicolette - vielen Dank, und nicht nur für das Feedback...