Dieser Essay war eine Hausarbeit im Deutschunterricht. Ich bin wahrscheinlich etwas über das Ziel hinausgeschossen.. Was soll ich sagen - das Thema hat mich gepackt! ;-)

Dieser Text ist eine Antwort auf einen polemischen Spiegel-Artikel. Weitere Quellen, die ich herangezogen habe, sind im Anhang aufgeführt. Als kritische Leserin finde ich beim nochmaligen Lesen viele Logiklöcher in diesem Essay, aber ehrlich gesagt bin ich zu faul, um ihn noch mal zu überarbeiten!

Achtung: Adorno-Alarm!

 

Der "Untergang" der Kultur und die Rolle des Fernsehens
von Hmpf

 

Einleitung:

Der Text, den ich zum Ausgangspunkt dieser Arbeit nehmen möchte, ist ein Artikel aus dem Spiegel der letzten Dezemberwoche 1999 mit dem Titel "Von Nietzsche zu Naddel", verfaßt von Reinhard Mohr und Mathias Schreiber. Die Autoren befassen sich darin auf polemische Weise mit dem Niedergang der Kultur und der "alles zermahlenden Maschine der Massenkultur" an der Schwelle zum neuen Jahrtausend. Ich habe diesen Artikel gewählt, weil darin Themen und Fragestellungen zur Sprache kommen, die mich zur Zeit sehr beschäftigen.

Zusammenfassung:

"Das Individuum an der Schwelle zum 21. Jahrhundert" ist nach Mohr und Schreiber nur noch Material für die Massenkultur, das "verwertet wird" und "das sich selbst verwertet" (S.180, 1.Spalte, Mitte). Alles werde zum Zeichen, doch gebe es keine Inhalte mehr, keine Botschaften oder Utopien. Die Autoren sehen die "anspruchsvolle Kultur" (S.180, 1.Spalte, unten) seit den zwanziger Jahren konsequent auf dem Weg zur Selbstabschaffung und führen dies darauf zurück, daß "das Individuum, das sich früher über diese Kultur definiert habe, schon längst im Koma" liege (S.180, 2.Spalte, oben), d.h. daß das Individuum de facto schon gar nicht mehr existiere, da es sich seiner Individualität nicht mehr bewußt sei. Die Kultur sei, so die Autoren, im Begriff, abgelöst zu werden vom "endgültigen Triumph der Massenkultur" (S.180, 3.Spalte, unten), die dem Einzelnen "wohlige", wiewohl stumpfsinnige "Massenzugehörigkeit beschert" (S.180, 3.Spalte, unten), von einer "lärmenden Dauerparty der Entsublimierung" (S.181, 2.Spalte, Mitte),

"Die klassenlose Gesellschaft als Sieg der Massenkultur - schrecklich bunt und einfältig, grelldumpf blöde und eindimensional, Klassen und Generationen übergreifend auf Teletubbie-Niveau, eine einzige Simulation von Leben, hin und her geworfen zwischen Endlos-Talk, Dauersex und Gewaltexzessen, primitivster politischer Skandalgier und ungebremstem Exhibitionismus bis ins letzte Futonbett."(S.182, 3.Spalte, Mitte)

Dieser Sieg ist laut Mohr und Schreiber möglicherweise eine zwingende Folge der "Überfüllung" der Welt, der sich ausbreitenden Demokratie und Industrialisierung (S.181, 3.Spalte, oben) und der internationalen Vereinheitlichung kultureller Phänomene. Einen dominanten Anteil an der Entwicklung einer alles gleichmachenden globalen Massenkultur hat nach Meinung der Autoren die weltweite Verbreitung "anglo-amerikanischer Unterhaltungsmuster"(S.181/182), die in ihrer Trivialität universal verständlich sind und sich daher durchsetzen. Den Erfolg des amerikanischen "Kulturmodells" (S.182, 1.Spalte, Mitte) führen sie zurück auf Amerikas geschichtliche Eigenart der Integration vieler verschiedener Volksgruppen, der "Kreolisierung" (S.182, 1.Spalte, Mitte) sehr unterschiedlicher kultureller Einflüsse, bei der "die kulturelle Vielfalt... zum folkloristisch-populären Reiz verflacht" wird (S.182, 1.Spalte, Mitte) sowie auf den verfassungsmäßig verbrieften 'pursuit of happiness', das Streben nach individuellem Glück. Die von der amerikanischen Verfassung so begünstigte Individualisierung ist für die Autoren des Artikels der eigentliche Motor der Moderne und führt zu "unerkannte(n) Kollektivierungsprozesse(n)". (In einfachen Worten: 'Jeder macht, was *er/sie* will" - Individualisierung; Auflösung früher verbindlicher Verhaltensstandards. "*Jeder* macht, was er/sie will" - Kollektivierung; massenhafte Verbreitung neuer Verhaltensstandards.)

 

 

 

Vorbemerkung

Da in der Debatte um die kulturelle Verflachung dem Fernsehen immer wieder ein wesentlicher Teil der Schuld zugesprochen wird, möchte ich im Folgenden vor allem auf das Fernsehen eingehen und versuchen, dem gängigen Bild vom 'verdummten' Zuschauer einen anderen Entwurf entgegenzusetzen.

Ich schreibe diesen Aufsatz aus der Perspektive eines stark bildungsbürgerlich geprägten Menschen, der in den letzten zwei bis drei Jahren in ausgeprägten Kontakt mit der sogenannten Massenkultur, die für viele Menschen ja gleichbedeutend ist mit Unkultur, gekommen ist, genauer gesagt, aus der Perspektive eines anfangs widerstrebenden und von Selbstzweifeln geplagten, jetzt jedoch 'bekennenden' Fans. 'Fan' in diesem Zusammenhang ist zu lesen als 'media fan', womit im Amerikanischen jene Subkultur bezeichnet wird (und sich selbst bezeichnet), deren Hauptinteresse bei Science Fiction - und Fantasyserien und -literatur, Comics, Computerspielen usw. liegt. Der sichtbarste und bekannteste Teil dieser Subkultur ist rund um die Serie 'Star Trek' entstanden, und vielen Uneingeweihten dürfte unbekannt sein, daß 'media fandom' keineswegs auf diesen einen 'Text' beschränkt ist, sondern auf eine Vielzahl von 'Texten' zurückgreift, wobei natürlich jeder Fan seine eigenen Vorlieben hat. Ebenso haben die meisten Außenstehenden wahrscheinlich keine Vorstellung von den Aktivitäten, mit denen Fans ihre 'fannishness' ausleben.

Traditionelle Positionen – Theodor W. Adorno, Günther Anders, Neil Postman:

Ein Fan zu sein bedeutet, eine starke emotionale Bindung zu gewissen Produkten der Massenkultur oder 'Kulturindustrie' (Adorno) zu haben. Diese Bindung war mir selbst lange Zeit sehr suspekt, da ich meinte, die Massenkultur, ihre Ideologie und ihre Mechanismen gut genug zu durchschauen, um ihr zutiefst zu mißtrauen. Im Kursbuch Medienkultur wird am Anfang des Kapitels "Massen - Medien - Kultur" ein sehr schöner Satz von Umberto Eco zitiert, der ziemlich genau wiedergibt, was für mich damals die Grundlage jeden Nachdenkens über mein Verhältnis zum Fernsehen, bzw. zu bestimmten Sendungen, war:

"Es waren einmal die Massenmedien, sie waren böse..."

Dies ist, wenn auch satirisch überspitzt, lange Zeit der Tenor jeder Auseinandersetzung mit den Medien, insbesondere mit dem Fernsehen, gewesen.

Im "Résumé über Kulturindustrie" (1963) definiert Theodor W. Adorno Kultur folgendermaßen:

"(Kultur) wollte als Ausdruck von Leiden und Widerspruch die Idee eines richtigen Lebens festhalten, nicht aber das bloße Dasein, und die konventionellen und unverbindlich gewordenen Ordungskategorien, mit denen die Kulturindustrie es drapiert, darstellen, als wäre es das richtige Leben und jene Kategorien sein Maß."(S.206 unten)

Kultur "(erhob) Einspruch (...) gegen die verhärteten Verhältnisse"(S.203 Mitte)

Kultur besteht also nach Adorno immer im Widerspruch zu den bestehenden Verhältnissen.

"Kulturindustrie" hingegen produziert "unkritisches Einverständnis", macht "Reklame für die Welt" (S.203 unten) und befestigt die Massenmentalität (S.202 unten).

Günther Anders beschäftigt sich in "Die Welt als Phantom und Matrize" (1956) unter anderem mit dieser seiner Meinung nach ganz besonders durch das Fernsehen geförderten Massenmentalität und mit den Auswirkungen, die das Fernsehen auf unser Weltbild, unsere Welterfahrung hat. Anders hält es für unmöglich, daß der Fernsehzuschauer sich noch ein eigenes Bild von der Welt machen könne, die ihm schon fertig vorbereitet und mit Bedeutung versehen ins Haus geliefert werde:

"So wenig wir das bereits gebackene und geschnittene Brot zu Hause noch einmal backen und schneiden können, so wenig können wir das Geschehen, das uns in ideologisch bereits 'vorgeschnittenem', in vorgedeutetem und arrangiertem Zustand erreicht, ideologisch noch einmal arrangieren oder deuten..." (S.219 oben)

Der Fernsehzuschauer werde vom Fernsehen geprägt, und da das Fernsehen jedem die gleichen Bilder liefere, werde das Bewußtsein sämtlicher Zuschauer gleich geprägt, wobei die Zuschauer sich an dieser 'Gleichschaltung' auch noch selbst beteiligen:

"Massenmenschen produziert man ja dadurch, daß man sie Massenware konsumieren läßt; was zugleich bedeutet, daß sich der Konsument der Massenware durch seinen Konsum zum Mitarbeiter bei der Produktion des Massenmenschen (bzw. zum Mitarbeiter bei der Umformung seiner selbst in einen Massenmenschen) macht." (S.212 oben)

Sowohl Adorno als auch Anders gehen davon aus, daß der Mensch im Zeitalter der Kulturindustrie "total unfrei" ist. – Nicht unfrei im Sinne irgendeiner offenen politischen Unterdrückung, sondern unfrei, weil er die Fähigkeit und sogar den Willen selbst kritisch zu denken, sich die Welt selbständig anzueignen, sich von ihr ‚ein Bild zu machen‘ und sich als Individuum zu verstehen etc. verloren hat. Sie sehen eine Zukunft voraus, die ziemlich genau so aussieht wie von den Autoren des Spiegel-Artikels beschworen.

Das Fernsehen ist sicherlich der Inbegriff dessen, was Adorno als 'Kulturindustrie' bezeichnet. Es ist vor allem ein Medium der Unterhaltung. Selbst dort, wo es vorgibt, informative Inhalte zu befördern, wie z.B. in den Nachrichten, steht in Wirklichkeit Unterhaltung im Vordergrund; es ist keine vorrangige Aufgabe des Fernsehens, die Zuschauer aufzuklären oder zum intensiven Nachdenken anzuregen, wie Neil Postman in "Das Zeitalter des Showbusiness" (1985) nachweist:

"Dahinter steckt weder böse Absicht noch mangelnde Intelligenz, sondern die klare Erkenntnis, daß "gutes Fernsehen" nichts mit dem zu tun hat, was man im Hinblick auf Erörterung, Urteilsbildung oder andere Formen sprachlicher Kommunikation als "gut" bezeichnen würde, sehr viel dagegen mit der Wirkungsweise von Bildern." (S.227 oben)

"Aus dem Wesen dieses Mediums ergibt sich, daß es den Gehalt von Ideen unterdrücken muß, um (...) den Wertmaßstäben des Showgeschäfts zu genügen." (S.230 Mitte)

Es liegt mir fern, hier ein Loblied auf das Fernsehen zu singen. Allerdings möchte ich das pessimistische Bild, das in den vorgenannten Texten vom Zuschauer gezeichnet wird, ein wenig korrigieren.

 

Eine neue Sicht auf das Publikum – John Fiske:

Die traditionelle Medienkritik, deren Ideen sich auch in dem hier behandelten Spiegel-Artikel wiederfinden, geht davon aus, daß das Fernsehpublikum/die Konsumenten der Massenmedien/der Kulturindustrie eine wehrlose, passive Masse ist, in die die Medien ihre Ideologie "hineinstopfen" (Adorno, S.205 oben).

In "Augenblicke des Fernsehens" (1989) kritisiert John Fiske die bisherige Praxis, "das Fernsehpublikum" als eine einheitliche Kategorie und das Programm als ein "einheitliches Ganzes, das dieselbe Nachricht auf demselben Weg zur Gesamtheit ihres 'Publikums' bringt" zu betrachten (S.234 unten). Vielmehr plädiert er dafür, das Fernsehen als einen "Prozeß der Herstellung von Bedeutungen und Vergnügen" zu sehen, wobei sowohl 'das Fernsehen' als auch 'die Zuschauer' Macht über die hergestellten/herzustellenden Bedeutungen haben.

"Die Leute können ihre eigene Kultur kreieren und sie tun dies auch, wenngleich unter Bedingungen, die sie nicht selbst gewählt haben." (S.235 unten)

Wenn auch der Zuschauer durch die Gesellschaft, in der er lebt, geprägt ist, und der "Text" eine gewisse Deutung nahe legt, so hat der Zuschauer doch die Möglichkeit, den Text gewissermaßen gegen den Strich zu bürsten, seine eigene Interpretation zu schaffen. Dies wird nicht nur möglich, sondern sogar notwendig gemacht durch die offene und segmentierte Struktur des Fernsehens (auf die ich im nächsten Abschnitt noch einmal eingehe), die es vom Zuschauer geradezu verlangt, selbständig Verbindungen zwischen disparaten Elementen herzustellen und Lücken zu füllen. Aufgrund ihrer unterschiedlichen gesellschaftlichen Prägung, ihrer unterschiedlichen Erfahrungen und Fähigkeiten schaffen verschiedene Zuschauer dabei verschiedene Bedeutungen.

Fandom: Der Prozeß des Fernsehens als kreativer Akt – Henry Jenkins:

Hier möchte ich nun näher auf die Weise eingehen, wie Fans mit den von ihnen favorisierten medialen Produkten umgehen, weil sie von dieser (eingeschränkten) Freiheit, eigene Bedeutungen zu schaffen, auf besonders auffällige Weise Gebrauch machen. Henry Jenkins beschreibt die verschiedenen Arten, auf die Fans das ihnen von den Medien zur Verfügung gestellte Grundmaterial "umschreiben"/"neu schreiben" ("rewrite") in seinem "ethnographischen" Bericht über die "media fan community", "Textual Poachers" (1992), und ich selbst kenne zumindest einige Aspekte von "fandom" aus eigener Anschauung.

Ich möchte hier zuerst einen Auszug aus einem von mir vor etwa eineinhalb Jahren verfaßten Aufsatz über meine eigene "Fanwerdung" zitieren, in dem ich unter anderem zu erklären versucht habe, was das Spezifische am Umgang von Fans mit den Medien ist:

"Jedes Buch, jeder Film, jedes Computerspiel und jede noch so bescheuerte Fernsehserie kann eine Tür zu einer anderen Welt sein, oder, um eine bessere Analogie zu finden: Die Realität, ebenso wie Bücher, Filme usw. sind gigantische Steinbrüche, in denen ich mir Brocken zusammensuche, die mir zusagen und die ich dann weiterverarbeite. Daß ich nicht die einzige bin, die sich auf diese Weise eine zweite Realität schafft, hat mir der kurze Besuch im Internet gezeigt. Sehr viele Leute scheinen eine ähnliche Methode zu haben, mit den "Realitäten", die uns die Medien anbieten, umzugehen. Vielleicht ist dieses Phänomen am deutlichsten bei Serienfans zu beobachten.

Fernsehserien haben in besonderem Maße Steinbruchcharakter; sie sind vom Prinzip her unabgeschlossen, auf das Weitererzählen angelegt. Es gibt immer "lose Enden", die noch darauf warten, verknüpft zu werden, während bei einem Film oder Buch am Schluß normalerweise alle Erzählstränge zusammengeführt oder aufgelöst werden und so ein Eindruck von Geschlossenheit entsteht. Serien hingegen verhalten sich in dieser Hinsicht eher wie das reale Leben, selbst wenn die Geschichten, die sie erzählen, haarsträubend unrealistisch sind; man spürt immer, daß es irgendwie weitergeht. Ein Abenteuer mag vorbei sein, ein Problem gelöst, aber die Protagonisten werden auch am nächsten Tag (oder in der nächsten Woche, je nachdem) wieder zur Stelle sein...

(...)

Eine durchschnittliche Serienfolge dauert 45 Minuten, und in diesen 45 Minuten ist mitunter genug Handlung für einen ganzen Film untergebracht. Dabei kommt notgedrungen einiges zu kurz. Meist ist dies die Charakterisierung. Es folgt eine Vermutung, eine These, über die ich mir noch nicht ganz im klaren bin: Möglicherweise ist es gerade dieses Defizit, von dem viele "Endlosserien" leben. Das, was der Zuschauer wirklich über die Charaktere erfahren will, wird er nie erfahren, was er wirklich sehen möchte, wird nie geschehen – zumindest nicht auf dem Bildschirm... Doch im Kopf des Zuschauers ist alles möglich. Die Serie stellt das Ausgangsmaterial dar, den roh behauenen Steinblock; das eigentliche Endprodukt jedoch entsteht im Kopf des Zuschauers, und dieses Endprodukt muß nicht mehr viel Ähnlichkeit mit dem Ausgansmaterial haben." (aus "Mann mit Mantel", 1998)

Fans sind in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil des stumpfsinnigen Fernsehkonsumenten, wie er bei Mohr und Schreiber, bei Anders und Adorno beschworen wird. Sie sind keineswegs unkritisch, sondern nehmen sich die Freiheit heraus, Entscheidungen der Produzenten und ihre absolute Profitorientierung zu kritisieren und die Ideologie, die ihren bevorzugten Programmen zugrunde liegt, zu hinterfragen. Natürlich, so räumt Jenkins ein, sind längst nicht alle Fans wirklich politisch bewußt oder engagiert; allen ist jedoch gemein, daß sie sich von den Fernsehserien ihres Interesses nicht einfach nur berieseln lassen, wie Anders und Postman suggerieren, sondern sie sich aktiv ‚aneignen‘, sie einer oftmals detaillierten Analyse unterziehen, und sie 'umschreiben', so daß sie ihren eigenen Bedürfnissen und Interessen eher entsprechen. Das ‚Umschreiben‘ ist hier ganz wörtlich zu verstehen, da eine der Hauptaktivitäten der fan community die Produktion von "fan fiction" ist, d.h. Kurzgeschichten, Novellen und sogar Romanen, die im "Universum" einer bestimmten Serie spielen und die bestimmte Aspekte der Serie oftmals radikal umdeuten oder andere Akzente setzen, als vom "Ausgangsmaterial" vorgegeben. So handelt beispielsweise etwa die Hälfte sämtlicher fan fiction von sexuellen Beziehungen zwischen männlichen Protagonisten einer Serie. Damit, so Jenkins und andere, reagieren die Verfasserinnen (media fandom ist zu schätzungsweise 90% eine weibliche Domäne) einerseits auf die immer noch starke Dominanz männlicher Helden gerade in Fantasy und Science Fiction - es gibt nicht so viele interessante Heldinnen, über die man schreiben könnte, wie Helden - andererseits auf etwas, das von Jenkins als 'homosocial desire' bezeichnet wird - die Tatsache, daß der Übergang zwischen enger Freundschaft (und enge Männerfreundschaften gibt es viele im Fernsehen) und sexueller Anziehung oft fließend ist, auch wenn dies im allgemeinen von der Gesellschaft eher verdrängt wird. 'Slash' - so heißt dieses spezielle, durchaus umstrittene Genre, ist ein interessantes und vielschichtiges Thema, auf das ich hier jedoch aus Platzgründen nicht näher eingehen kann. In einer weiteren bedeutenden Gruppe von Geschichten führen die Autorinnen eigene weibliche Charaktere ein - eine weitere Reaktion auf das Fehlen akzeptabler weiblicher Identifikationsfiguren; andere befassen sich ausschließlich mit den 'Schurken' einer Serie, wieder andere rücken Nebenfiguren in den Mittelpunkt, die nach Meinung der Fans von den Drehbuchautoren vernachlässigt worden sind. Dabei ist es - besonders seit der Verbreitung des Internet, in dem heute der Großteil aller Fanaktivitäten stattfinden - jedem einzelnen Fan möglich, seine fan fiction zu veröffentlichen. Offenheit für die Mitwirkung aller spielt in der fan community eine sehr große Rolle.

"...it's a kind of rebellion against art/culture as something you consume, rather than something you participate in building." (Jane Mortimer)

Der Untertitel von Henry Jenkins' Buch über die Kultur der Fans lautet "Television Fans and Participatory Culture." "Participatory" könnte man vielleicht am ehesten mit "zur Mitwirkung offen" übersetzen. Dies galt ursprünglich nicht nur für den Bereich des eigenen Kreativwerdens, sondern bedeutete auch die Möglichkeit der Interaktion von 'Produzenten' (Autoren etc.) und 'Konsumenten'. Im fanfiction Bereich gibt es diese Interaktion noch immer. Wenn man eine Geschichte gelesen hat, die einen wirklich berührt, gehört es zum guten Ton, der Autorin ein e-mail zu schicken. Manche Autoren schreiben quasi mit ihrem Publikum, indem sie Vorschläge und Anregungen direkt in ihre Geschichten einbauen. In den Anfängen des fandoms gab es jedoch nicht nur ausgeprägte Interaktion zwischen Fans, sondern auch zwischen Fans und 'wirklichen' Produzenten.

Fandom entstand laut Jenkins in den 30/40er Jahren aus den Leserbriefspalten der Science Fiction-Magazine. Zwischen Lesern und Autoren entstand ein relativ enger Kontakt; Autoren reagierten oft direkt auf Wünsche und Fragen des Publikums. Dieses Publikum begann bald, eine Art Netzwerk zu bilden, dessen Strukturen in den 60ern vom damals gerade in der Entstehung begriffenen media fandom übernommen wurden. In den sechs Jahrzehnten, die das Phänomen 'fandom' schon existiert, haben sich Bräuche und spezifische Formen der kulturellen Produktion (filk music, fan fiction etc.) entwickelt, die Henry Jenkins dazu veranlassen, vom fandom als einer authentischen "folk culture" zu sprechen. Diese "Volkskultur" nahm ihren Ausgang an einer Stelle, an der wohl kaum jemand die Keimzelle irgendeiner Art von Kultur gesehen hätte - nämlich bei als Schund verschrieenen Groschenheftchen - und fährt bis heute fort, Basistexte der Populärkultur für sich zu vereinnahmen und zu transformieren.

Fans widmen den ihnen am Herzen liegenden Texten die gleiche Aufmerksamkeit, wie man sie gemeinhin einer "großen Erzählung" widmet. Eine "große Erzählung" ist

"eine Erzählung, in der das ganze jedes einzelne Detail erklärt, und jedes Detail auf das Ganze verweist. Eine Erzählung, in der es nur eine Frage der Anstrengung und der Auslegung ist, daß ich auf jede Frage eine Antwort erhalte." (Seeßlen)

Fans erbringen diese Anstrengung permanent; sie analysieren, kritisieren, interpretieren und ringen so einem allgemein als 'flach' oder 'anspruchslos' klassifiziertem Material in einem aktiven, kreativen Prozeß tiefere Bedeutungen ab. Ich denke, daß dies eine ernst zu nehmende kulturelle Leistung darstellt. Die kulturellen Aktivitäten der Fans zeugen - meiner Meinung nach - von dem tief verwurzelten menschlichen Bedürfnis nach 'tieferem Sinn' - besser kann ich es im Moment nicht ausdrücken. Ich glaube, daß Fandom ein gutes Beispiel dafür ist, wie 'das Publikum' - oder zumindest Teile davon - sich weigert, zum passiven Konsumenten unverbindlicher, bedeutungsloser 'Produkte' zu werden und das dies - wie bereits von Fiske vertreten - Anlaß zu der Hoffnung gibt, daß auch der 'normale' Fernsehzuschauer dem Fernsehen nicht ganz so hilflos und bedingungslos zustimmend 'ausgeliefert' ist, wie allgemein vermutet.

Schluß:

Mir ist bewußt, daß ich mich mit meinen Erörterungen zum Thema Fernsehen und Fernsehrezeption zeitweise sehr weit vom ursprünglichen Thema entfernt habe. Ich habe diese Herangehensweise gewählt, weil die Auseinandersetzung mit den Wirkungen des Fernsehens seit seiner Anfangszeit ein wiederkehrender und, wie ich finde, charakteristischer und aufschlußreicher Teil der gesamten Kulturdebatte ist. Was ich der - sicherlich polemisch übertriebenen - Position der Autoren des Spiegelartikels entgegenzusetzen habe, ist die von den oben geschilderten Erkenntnissen gestützte Zuversicht, daß 'Kultur' - und zwar durchaus Kultur im Sinne von Adornos Definition - eine Art menschliches Grundbedürfnis ist und sich mitunter an unvermuteten Stellen entwickelt. Ich glaube nicht daran, daß man die Menschheit als Ganzes 'verdummen' kann; vielmehr glaube ich, daß ein recht großer Prozentsatz an Menschen immer 'nach Höherem streben' wird und sich selbst unter auf den ersten Blick ungünstigen Verhältnissen 'geistige Biotope' schaffen wird, die unter Umständen zum Ursprung 'wirklicher Kultur' werden können.

 

Quellen: