MOHN UND GEDÄCHTNIS

von Little Tiger und XTrek

DISCLAIMER IM ERSTEN TEIL

 

 

     

KAPITEL 5

 

Scully erwachte mit dem unbestimmten Gefühl, daß etwas nicht stimmte. Sie hätte nicht sagen können, was es war, das sie beunruhigte, aber ihre in die Matratze verkrampften Finger begannen langsam weh zu tun. Natürlich war da die Sache mit Mulder, was immer das auch sein mochte. Bevor sie sich hingelegt hatte, hatte sie sogar kurz mit dem Gedanken gespielt, ein leichtes Schlafmittel zu nehmen, aber das hatte sie dann natürlich nicht getan. Wenn jemand sie anrief - wenn Mulder anrief - mußte sie bereit sein.

Aber das war es nicht.

Sie drehte sich auf die Seite; die Leuchtziffern ihres Weckers zeigten 2.17 und draußen wie drinnen war alles ruhig. Es war dunkel im Zimmer, aber durch die nur halb zugezogenen Gardinen stahl sich das Mondlicht in den Raum und zeichnete die vertrauten Umrisse ihres Schlafzimmers nach. Es mußte wegen Mulder sein; was passiert war schien sie stärker zu beunruhigen, als sie sich einzugestehen bereit war. Sie legte sich wieder zurück und atmete tief durch, während sie ihren Blick durch das Zimmer schweifen ließ. Alles war an seinem Platz, der Schrank, die Bücherregale, der Schreibtisch... der Schreibtisch? Auf den ersten Blick war es ihr entgangen, aber dann, aus den Augenwinkeln, nahm sie eine winzige Bewegung wahr, einen Schatten, der dunkler war, als er eigentlich hätte sein dürfen. Einige lange Sekunden lag sie wie erstarrt, während sie gegen die Panik ankämpfte, die von ihr Besitz zu nehmen drohte. Vor ihren Augen, die sich langsam an die Dunkelheit gewöhnten, floß der Schatten zu menschlichen Konturen zusammen - es gab keinen Zweifel, auf ihrem Schreibtisch saß ein Mann und beobachtete sie. Hatte er gemerkt, daß sie wach war? Langsam, vorsichtig streckte sie die Hand aus und tastete nach der Pistole, die auf ihrem Nachtkästchen lag, und ihre Finger schlossen sich um den Griff. Schlagartig schoß sie hoch, richtete die noch im Halfter steckende Waffe auf den Eindringling und schaltete das Licht an, die Lampe gegen den Schreibtisch richtend. "Hände hoch!" brüllte sie, "Keine Bewegung, ich habe eine Waffe!"

Der Mann zeigte keine Reaktion, er blinzelte nur, geblendet vom Strahl der Lampe. Er saß ruhig da, die Arme um die hochgezogenen Beine geschlungen und sah sie an. Scully erkannte ihn sofort.

"Krycek." Krycek, den Killer im Sold ihrer machtvollsten Feinde, schien es nicht im mindesten zu stören, daß einen entsicherte Waffe auf seinen Kopf gerichtet war. Und diese Gleichgültigkeit wiederum verunsicherte Scully. Wenn sie ihn beim Durchwühlen ihrer Sachen erwischt, wenn er sie angegriffen hätte, hätte sie ohne Zögern reagiert, wie sie es an der Akademie gelernt hatte. Aber seine Ruhe machte ihr Angst. Sie hob die Pistole höher und faßte sie fest mit beiden Händen. Er sollte sie nicht zittern sehen. "Eine Bewegung, Krycek, eine einzige, und dein Chef muß sich jemand anderen für seine Drecksarbeit suchen!"

Langsam, ohne Eile, streckte er seine Arme aus und zeigte ihr seine leeren Handflächen. "An Ihrer Stelle würde ich das nicht tun, Agent Scully. Ich bin unbewaffnet, und es ist unwahrscheinlich, daß man an Ihrem Badfenster Spuren gewaltsamen Eindringens feststellen wird. Es gibt keine Fingerabdrücke, nichts, was auf einen Einbruch hindeutet. Wie wollen Sie erklären, daß Sie auf jemanden geschossen haben, dem Sie offensichtlich die Tür geöffnet haben? Ganz abgesehen davon sind Sie nicht der Typ für einen kaltblütigen Mord."

Scully wußte, daß er recht hatte, aber das war noch lange kein Grund, die Pistole herunterzunehmen. Nicht im Angesicht von Missys Mörder.

"Ich sollte dich umbringen, wie du es mit meiner Schwester getan hast.", erwiderte sie mit zusammengebissenen Zähnen, um der Versuchung, doch abzudrücken, zu widerstehen. "Wollen wir wetten, daß ich einen Weg finde, es wie Notwehr aussehen zu lassen?"

"Möglich. Aber ich habe Ihre Schwester nicht umgebracht. Ich war es nicht, der geschossen hat."

"Und was soll das für einen Unterschied machen? Du warst einer der Killer."

"Es machte einen großen Unterschied - für mich. Und ich bin sicher auch für Sie, Dana."

Ihren Namen aus seinem Mund zu hören drehte ihr den Magen um. Wie sein arrogantes Lächeln. Sie hatte genug davon. Langsam stand sie auf, die Pistole im Anschlag.

"Runter von da. Gesicht zur Wand und Hände hinter den Kopf."

Krycek befolgte ihre Anweisungen gehorsam, und Scully preßte den Lauf an seinen Nacken. Ein Schaudern lief durch seinen Körper, als er das kalte Metall auf seiner Haut spürte. Sie tastete ihn mit der Linken nach Waffen ab und fühlte, wie er erstarrte, als ihre Hand in die Nähe seiner Hüfte kam. Argwöhnisch wiederholte sie die Durchsuchung, und wieder spannte sich sein Körper. "Entschuldigung, Agent Scully, aber es gibt gewisse Stellen, an denen ein Mann... etwas sensibel ist."

Überrascht trat Scully einen Schritt zurück. Das hatte sie nun wirklich nicht erwartet. Ihr Zorn wuchs.

"Dreh dich langsam um, Bastard. Die Hände bleiben, wo sie sind."

Krycek gehorchte. Er hatte sich verändert, seit Scully ihn das letzte Mal gesehen hatte. Seine Haare waren länger, etwas zerzaust, und sein Musterschüler-Image war fort; jetzt wirkte er jünger. Und gefährlicher.

Scully wich noch weiter zurück, um sicheren Abstand zu haben. "Gut, dann werde ich jetzt einen Anruf machen. Ich bin sicher, Skinner freut sich, dich wiederzusehen."

"Nein." Er war immer noch unerträglich ruhig.

"Nein?"

"Ich bin hier, um Ihnen zu helfen."

"Mir zu helfen?" schnaubte Scully verächtlich, "Also war es reine Nächstenliebe, die dich dazu veranlaßt hat, um zwei Uhr nachts in meine Wohnung einzubrechen. Dieses Kapitel des Pfadfinderhandbuchs muß mir entgangen sein."

"Sie können mir glauben." Er versuchte, unauffällig die Arme sinken zu lassen, aber eine schnelle Bewegung mit der Pistole belehrte ihn eines Besseren. "Sehen Sie, in letzter Zeit habe ich Dinge getan, die.... sagen wir, sie haben mich das Wohlwollen einiger Leute gekostet. Ich mußte aufpassen, wohin ich ging, wen ich traf. Ich wollte nicht, daß sie meine Pläne erraten. Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe, aber ich hatte keine andere Wahl."

Er sah keineswegs reumütig aus. Er log. Derselbe doppelzüngige Bastard wie immer. Kryceks Blick rutschte tiefer, und mit einem Mal fühlte sich Scully gar nicht mehr wohl in ihrem dünnen Seidenpyjama.

"Deine Pläne? Und die wären?"

"Als Allererstes: am Leben bleiben." Krycek deutet mit dem Kopf in Richtung der auf ihn gerichteten Pistole. Scully antwortete nur mit einem gezwungenen Lächeln und faßte die Waffe fester.

"Das kannst du auch anderswo machen." Sie hatte die Nase voll von dieser Farce. Und von Krycek. Und von seiner verdammten Ruhe.

"Da bin ich mir nicht ganz so sicher. Es gibt da ein paar Dinge, die ich unerledigt lassen mußte, als sich plötzlich... meinen Lebensstil geändert habe. Persönliche Dinge, die Sie nicht interessieren dürften." Ganz vorsichtig machte er einen Schritt nach hinten, um sich an den Schreibtisch zu lehnen, bevor er fortfuhr. Ich könnte Ihnen jetzt beteuern, wie sehr mir all das leid tut, was ich Ihnen angetan habe, daß ich versuchen möchte, den Schmerz zu lindern, den ich verursacht habe, aber ich habe den leisen Verdacht, daß Sie mir nicht glauben würden. Und ich kann Ihnen das nicht einmal verübeln. Außerdem entspräche es nicht die Wahrheit - und das ist ja bekanntlich ein Thema, auf das Sie und Mulder sehr empfindlich reagieren."

Scully merkte, daß sie den Atem angehalten hatte. Sie schalt sich dafür im Stillen und konzentrierte sich wieder auf den Mann vor ihr und das, was er sagte. Nichts von Bedeutung bisher.

"Ich tue das hier nur für einen einzigen Menschen: mich."

"Wirklich? Das ist ja etwas ganz Neues. Ich dachte immer, du machst nur das, was deine Herrchen dir befehlen."

Ein Schatten legte sich über Kryceks kaltes Lächeln. [Kleine Hure. Kleine, hübsche Hure.]

Ein Punkt für sie. Die Genugtuung ließ Scully etwas lockerer werden.

"Nein. Ich glaube, Sie haben ein falsches Bild von mir. Vielleicht haben wir eines Tages Gelegenheit, uns besser kennenzulernen." Wieder streifte sein Blick abschätzend über ihren Körper.

"Ich glaube es wird langsam Zeit für den Anruf." Scullys Stimme war rauh.

"Ich glaube nicht. Sehen Sie, das, was ich zu sagen habe, ist wichtig, unter Umständen sogar lebenswichtig für Mulder und deshalb..."

"Was hat Mulder damit zu tun?" Scully biß sich auf die Lippe. Zu schnell, zu neugierig. Aber Krycek schien ihrem Einwurf keine Beachtung zu schenken. "Wie schon gesagt, das ist eigentlich ohne Bedeutung für mich. Eine Nebenwirkung, sozusagen. Das nur, um zu betonen, daß ich all das hier wirklich nicht für Mulder - oder für Sie - tue. Das würden Sie mir ohnehin nicht abnehmen."

"Was ist mit Mulder?" Am liebsten hätte sie die Frage gestellt, während sich ihre Fingernägel in sein Gesicht gruben.

"Es ist nicht unbedingt notwendig, jemanden umzubringen, um ihn aus dem Weg zu schaffen, auch sie sind inzwischen zu diesem Schluß gekommen. Sie wissen das natürlich, Ihre Entführung war Beweis genug."

Scully ließ langsam die Pistole sinken. Das war es also. Sie biß die Zähne zusammen, um gegen die plötzliche Übelkeit anzukämpfen, die in ihr hochstieg. Teilnahmslos beobachtete sie, wie Krycek vorsichtig die Arme senkte. "Also denkst du, daß Mulder in Gefahr ist."

"Was ich denke ist nicht von Bedeutung. Ich weiß, daß Mulder in Gefahr ist. Sein neuer Freund, O'Reilly, zum Beispiel ist eine ziemlich interessante Person."

"Was weißt du über ihn?"

"Oh, ich habe plötzlich tatsächlich Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit?"

"Meine Aufmerksamkeit, aber das heißt noch lange nicht, daß ich dir traue!"

"Natürlich. Deshalb habe ich mir auch erlaubt, Ihnen ein Geschenk mitzubringen. Versprechen Sie mir, nicht auf mich zu schießen, wenn ich es aus meiner Tasche hole?"

Scully richtete von neuem die Waffe auf ihn "Nur zu!"

Krycek schob die Hand unter seine Lederjacke, zog eine Diskette heraus und hielt sie ihr hin. Scully machte einen Schritt nach vorne und erschauderte, als ihre Fingerspitzen sich für einen Moment berührten. Ihre Reaktion schien Krycek zu verwundern; sie sah, wie er sich die Lippen anfeuchtete.

"Das Password erfahren Sie, wenn Sie Ihren Computer einschalten."

Scully musterte die Diskette kurz. Kein Etikett, nichts. Eine einfache, anonyme Diskette.

"Warum tust du das?"

"Ich dachte, ich hätte Ihnen das bereits erklärt." Endlich verschwand sein ewiges Grinsen. "Wenn sie Mulder erledigt haben - und das wird nicht mehr lange dauern, wenn Sie nichts unternehmen, das können Sie mir glauben - dann bin ich an der Reihe."

" Ich glaube nicht, daß Ihnen das besonders schwer fallen würde, wenn sie das wirklich wollten."

"Nun, ihr Hauptproblem ist immer noch Mulder. Im Moment sind alle Energien auf ihn konzentriert. Und außerdem, ohne falsche Bescheidenheit, ich bin gut. Sehr gut. Sie haben mich ausgebildet, haben mich alles gelehrt, was ich wissen muß. Und ich war ein sehr aufmerksamer Schüler. Leider ist das nicht genug. Ich bin darauf angewiesen, daß Mulder sie beschäftigt hält. Noch"

**********

Mulder hätte nie gedacht, daß ein Farmer in ihm steckte. Und doch war das die einzig mögliche Erklärung, zumindest, wenn man keine X-Akte daraus machen wollte. Er hatte von sich aus angeboten, den anderen bei der Sonnenblumenernte zu helfen; die Vorstellung, einen Nachmittag lang umgeben von Tonnen seines Lieblingssnacks zu verbringen, war zu verlockend gewesen, um ablehnen zu können. Und später, gegen Abend, als die Luft langsam kühler wurde, der Schweiß auf seiner Haut zu trocknen begann, und er immer noch keinen einzigen Sonnenblumenkern probiert hatte, hatte er entdeckt, daß er diese Arbeit liebte.

Jetzt, wo die Sonne tief am Horizont stand, und seine neuen Freunde ins Haus gegangen waren, um zu duschen oder das Abendessen herzurichten, war Mulder noch immer draußen und hackte Holz: ein präziser Hieb mit der Axt, ein dumpfer Schlag, der nachhallte, und das Holz, teilte sich und fiel in zwei Hälften zu Boden. Niemand hatte ihn gebeten, das zu tun, aber als er vom Feld zurückgekommen war, hatte er Mrs. O'Reilly dabei ertappt, wie sie stirnrunzelnd den Stapel Holz umkreiste, und da hatte er nicht widerstehen können. Die Miene der alten Frau hatte sich augenblicklich aufgehellt, und ihr Schritt war leicht und beschwingt gewesen, als sie ins Haus zurückgekehrt war - und Mulder hatte sich gefreut, nützlich sein zu können.

Er hätte so etwas gerne für seine Mutter getan, etwas, das die Traurigkeit aus ihrem Gesicht vertrieb, die sich in der Nacht, in der Samantha verschwunden war, dort eingenistet hatte und seither nie wieder verschwunden war. Er seufzte. Zumindest um Mrs. O'Reilly brauchte er sich jetzt keine Sorgen mehr zu machen, jetzt war genügend gespaltenes Holz da, um ganz Godeyes zu wärmen.

"Vielen Dank, Fox, was hätte ich nur ohne dich gemacht! Und jetzt komm endlich rein, ich möchte dir dein Zimmer zeigen." Die Hausherrin war ganz plötzlich in der Haustür erschienen und hatte ihm gewinkt, ihr zu folgen. Er hatte versucht abzulehnen, er hatte ja nicht einmal saubere Wäsche dabei, aber sie ließ ihm keine Chance Alle seine Argumente wurden von einer einfachen Geste zerschlagen: sie nahm einfach seine Hand in ihre und führte ihn in einen Teil des Hauses, der früher wohl einmal der Stall gewesen war. Jetzt waren dort Zimmer für all jene Gäste untergebracht, die alleine da waren, während jene mit Familie im Haupthaus untergebracht waren. Das Zimmer war spartanisch, aber soviel er bis jetzt gesehen hatte nicht anders eingerichtet als die anderen, ein Bett mit hoher Stirn aus dunklem Holz, ein kleines Tischchen als Nachtkästchen, eine einsame Glühbirne, die von der Decke hing als einzige Lichtquelle, nackte, weiße Wände, das Fenster mit Brettern vernagelt als offensichtliches Zeichen dafür, daß die Renovierungsarbeiten noch nicht abgeschlossen waren. Mrs O'Reilly hatte ihm beschämt erklärt, daß ihre Mittel im Moment nichts Besseres erlaubten, aber er hatte ihr als höflicher Gast natürlich versichert, daß er alles hatte, was er brauchte. Als die Frau schließlich gegangen war, sah Mulder sich um und stellte fest, daß es eigentlich stimmte, was er ihr gesagt hatte: schließlich war er es gewohnt, auf einer Couch zu schlafen. Oder am Ufer eines Flusses. Und das spärlich eingerichtete Zimmer schien wie geschaffen dafür, die Anfälle von Klaustrophobie, die ihn in letzter Zeit immer öfter überfielen, zu zerstreuen. Er lachte leise vor sich hin und schüttelte den Kopf; immer vorausgesetzt, er schaffte es ausnahmsweise wieder einmal einzuschlafen. Er testete die Matratze und warf das T-Shirt, das er sich nach der Arbeit über die Schulter gehängt hatte, in eine Ecke. Die Duschen waren alle besetzt, aber das machte nichts, er hatte noch genug Zeit, bevor das Abendessen fertig war. Er schloß die Augen und atmete tief durch. Auch dieses Zimmer duftete herrlich so herrlich nach Lavendel wie der Rest des Hauses.

**********

Scully hatte zugesehen, wie Krycek in der Nacht verschwand, ohne auch nur zu versuchen ihn aufzuhalten. Dann hatte sie sich an ihren Computer gesetzt - nicht ohne die Waffe vorsichtshalber neben die Maus zu legen, man konnte ja nie wissen. Sie hatte gelesen und gelesen, bis ihre Augen vor Anstrengung zu tränen begannen. Der größte Teil der Daten auf der Diskette schien sinnloses Geschwafel zu sein, bei einigem verstand sie nicht einmal, worum es ging, und wieder andere... woher sollte sie wissen, daß das alles nicht erstunken und erlogen war? Um halb sechs Uhr morgens entschied sie schließlich, daß es Zeit war, professionellen Rat einzuholen. Aber von wem? Wer konnte etwas anfangen mit den ganzen merkwürdigen Andeutungen, Daten, Tabellen, Namen, Zeichen.... ?

**********

"Oh. Dana."

Anfangs war Frohike ihr auf die Nerven gegangen, aber mittlerweile fand sie ihn ganz amüsant. Das mochte pathetisch klingen, aber es war genau das, was sie ihm gegenüber empfand. Seine komische Art sich auszudrücken, seine unregelmäßigen Gesichtszüge, seine bedingungs- und genauso hoffnungslose Liiiiiieeeebe... Die allerdings war im Moment allerdings etwas gedämpft durch die Tatsache, daß sie ihn zu so nachtschlafender Zeit aus dem Bett geholt hatte.

"Wer ist da?" Eine ungebändigte Mähne blonder Haare kam hinter einem riesigen Computerschirm zum Vorschein. "Oh." Im Gegensatz zu Frohike sah Langly keineswegs so aus, als hätte er geschlafen, und die Heavy-

Metal-Musik, die trotz der Kopfhörer auf seinen Ohren ziemlich gut zu hören war, vertrug sich wahrscheinlich nicht einmal für jemanden wie ihn mit Schlaf. Aber eigentlich hätte sie damit rechnen müssen, daß einer der drei immer wach war, nur für den Fall, daß irgend etwas Außergewöhnliches passierte. Zum Beispiel, wenn sich Elvis in der Ophra-Winfrey-Show als Kennedys Mörder outete oder ähnliche weltbewegende Dinge.

Sie schienen überrascht zu sein, Scully so ganz ohne Mulder zu sehen. Tatsächlich war sogar sie selber etwas überrascht gewesen, als sie sich an ihre Tür klopfend wiedergefunden hatte.

"Hallo, Jungs, wie läuft's?" Scully trat ein, steifer Gang, steifes Kinn, steifer Blick. Sie hatte einen Ruf zu wahren, schließlich war sie die skeptische Scully. Was also machte sie an einem Ort wie diesem?

"Welch günstiger Wind des Schicksals....?" Der Mann, der hinter einem Regal auftauchte, sah aus wie ein Mathematikprofessor eines Gymnasiums; in einer Hand hatte er ein paar Fotos, in der anderen eine Lupe. Es wäre schon fast ein Verbrechen gewesen, wenn Byers außerhalb dieses Raumes keine Mathematik-Professor gewesen wäre.

"Ich wollte nur... ich wollte mich nur ein bißchen unterhalten."

"Unterhalten, ja?" murmelte Langly und kam näher. Frohike hatte inzwischen die Tür dreifach verriegelt und ihr einen Stuhl gebracht; er selber setzte sich kurzerhand zu ihren Füßen auf den Boden. Scully setzte sich und achtete darauf, daß ihr Rock dabei nicht zu weit hochrutschte; so sympathisch war ihr Frohike auch wieder nicht. "Ja, ich... wollte wissen, ob ihr je von einem gewissen Professor Albert O'Reilly gehört habt."

"O'Reilly... nicht, daß ich wüßte." antwortete Byers nachdenklich und strich sich über den kurzen Bart.

"Da ist dieser James O'Reilly in Ohio, der sich mit Biotechnologien beschäftigt." zeigte sich Langly bereitwillig.

"Nein, der, den ich meine, heißt Albert O'Reilly und wohnt in Godeyes, New Mexico."

"Godeyes, lustiger Name. Wir könnten ein paar Mails verschicken und sehen, ob unsere Freunde da draußen etwas über den Typen wissen." Langly wartete erst gar nicht auf eine Antwort, sondern verschwand augenblicklich hinter seinem Computer.

"Warum interessierst du dich so für ihn, daß du mitten in der Nacht zu uns kommst?"

Scully fühlte sich etwas unwohl, denn es war Byers, der mit ihr sprach, und Byers wirkte hier selber etwas fehl am Platz. Er wirkte so... normal. "Dienstlich." Sie biß sich auf die Lippe. "Mulder ist da unten und... sieht sich ein bißchen um."

"Mulder ist viel zu viel ohne dich unterwegs, Scully." Langlys halb ersticktes Lachen entlockte ihr ein gezwungenes Lächeln.

"Das weiß ich, glaub mir."

"Na ja, so viel erst wieder nicht." schwächte Byers ab.

"Inzwischen könntet ihr es hiermit versuchen." Scully reichte Byers die Diskette, der sie mit spitzen Fingern an Langly weitergab, als sei sie giftig.

"Was ist das?" fragte Frohike und stand auf, um zwischen den Regalen zu verschwinden.

"Ich hatte Besuch." "Angenehmen?" Frohike war mit einer Tasse heißen Kaffees zurückgekommen. Der Gürtel seines Morgenmantels hatte sich gelöst und gab den Blick auf ein verwaschenes blaues Pyjama mit aufgedruckten bunten Fliegenden Untertassen frei. "Hast du das Password?" fragte Langly dazwischen, der eine ausgedehnte Viruskontrolle abgeschlossen hatte.

Scully räusperte sich. Lieber hätte sie halbnackt auf glühenden Kohlen getanzt.

"Em-i-es-es space ypsilon-o-u komma a-el-e-ix." diktierte sie und merkte verärgert, daß sie rot wurde, genau wie vorher, als sie ihren Computer eingeschaltet hatte. Damals war es allerdings vor Wut gewesen.

" Sieht ganz so aus", beantwortete Frohike seine eigene Frage von vorhin.

"Nein, keineswegs", erwiderte sie zornig.

"Hmm, wir werden daran arbeiten müssen, aber..." Langly war ganz in die Lektüre vertieft und Byers kam neugierig näher, um ihm über die Schulter zu schauen.

"Wow", kommentierte er nüchtern.

Frohikes Blick wechselte nervös zwischen seinen Kollegen und Scully; er haßte die Vorstellung, daß Scully eine so interessante Informationsquelle haben könnte. Interessanter als er. Und die auch noch mit "Miss you, Alex" unterzeichnete.

"Darf man fragen wer dieser "Alex" ist, der dich so vermißt?"

"Alex Krycek."

Drei Augenpaare musterten sie ungläubig. Byers fand als erster die Sprache wieder. "Wirklich?"

Dann hatte sich auch Frohike vom ersten Schrecken erholt. "Dieser ekelerregende Wurm hat es gewagt..."

"Ja, er hat es tatsächlich gewagt."

"Und wo ist er jetzt?"

"Das ist eine lange Geschichte. Hört mal, es ist wichtig, das ihr mir so bald wie möglich sagt, was auf der Diskette ist, vor allem, welche Informationen über O'Reilly da drinstecken. Glaubt ihr, das kriegt ihr hin?"

Beleidigte Blicke aus drei Augenpaaren waren ihr Antwort genug.

**********

"Es ist deine Schuld!"

Samantha sah ihn an, das Gesicht von Haß verzerrt. Mulder wünschte sich nichts mehr als sie zu umarmen, zu küssen, ihr zu Füßen zu fallen, ihr zu sagen, wie sehr es ihm leid tat, ihr von der Hölle zu erzählen, zu der sein Leben in jener Nacht geworden war, von seiner unermüdlichen Suche nach ihr, von den dunklen Mächten, gegen die er kämpfte. Und er wollte sich bei ihr entschuldigen.

Aber er konnte sich nicht rühren. Er fühlte die Tränen, die auf seiner Haut brannten, den Kloß in seinem Hals, der ihn zu ersticken drohte, und die Gänsehaut, die ihre großen, dunklen Augen, deren Haß sich in sein Hirn brannte, über seinen Körper jagten.

"Samantha", flüsterte er.

"Es ist deine Schuld. Deine."

"Samantha, bitte..."

Ein scharfer Schmerz durchschnitt seine Brust. Es gab keine Vergebung für das, was er getan hatte. Niemals.

Er setzte sich auf. Das Licht blendete ihn und für einen Augenblick wußte er nicht, wo er war. Er spürte, wie der Schweiß seine Wirbelsäule entlangrann und ein plötzlicher Anfall von Übelkeit ließ ihn würgen. Vorsichtig ließ er sich wieder aufs Bett zurücksinken, sich sofort in Fetalposition zusammenrollend.

Mulder weinte lautlos. Dieser Alptraum würde nie zu Ende gehen. Es gab keinen Frieden für ihn. War es überhaupt richtig, sie zu suchen, Anspruch auf sie zu erheben? Nein, es war falsch, das war es, was Samantha ihm in all den schlaflosen Nächten sagte. Er wußte nicht, wer sie in jener Nacht fortgebracht hatte, aber er wußte, daß, was immer auch passiert war, er nichts getan hatte, um es zu verhindern.

Schlimmer noch, in seinem verrückten, feigen Versuch, eine Rechtfertigung für diese Tatsache zu finden hatte er auch andere mit in den Abgrund gestürzt. Er hatte seinen Vater und Melissa umgebracht, er hatte das Leben von Scully, ihrer Familie und seiner Mutter für immer verändert. Max, Lucy... er hatte eine Spur von Toten hinter sich gelassen.

Wieder richtete er sich auf und stellte die nackten Füße auf den eiskalten Boden. Er konnte hier drinnen nicht atmen. Ein weißes Hemd überziehend - wahrscheinlich hatte es ihm Mrs O'Reilly aufs Bett gelegt, während er schlief - verließ er das Haus.

Inzwischen war es tiefste Nacht, alle Lichter waren gelöscht und kein Laut drang aus dem schlafenden Haus nach draußen. Er knöpfte das Hemd zu, um sich vor dem kalten, feuchten Wind zu schützen, setzte sich ins Gras und legte den Kopf auf die Knie.

 

KAPITEL 6

 

"Und?"

Frohike fand, daß sein Spätzchen etwas Schlaf brauchte. Scully sah erschöpft aus; ihr lachsfarbenes Kostüm war genauso perfekt wie vor einigen Stunden, aber ihr tizianrotes Haar fiel ihr müde auf die Schultern, das dezente Make-up verbarg ihre Blässe kaum, und ihre wundervoll blauen Augen glänzten fiebrig. Frohike hätte sie gerne in seine Arme genommen und getröstet, aber er hatte den leisen Verdacht, daß Scully ihn, hätte er es versucht - und sei es auch mit den ehrenvollsten Absichten der Welt - ein paarmal gefaltet, und ihn in einen Schrank gesperrt hätte. Und Mulder hätte nach seiner Rückkehr das Werk vollendet, indem er den Schrank in den Potomac-River warf. "Nun, um dich zu zitieren, Scully, das ist eine lange Geschichte. Wir haben noch nicht einmal alles durchgearbeitet. Ein großer Teil der Informationen, die wir auf der Diskette gefunden haben, sind zwar recht wertvoll für uns, aber für dich wahrscheinlich nicht besonders interessant. UFOs, Hybriden, Aliens, diese Art von unwichtigen Details, du kennst das ja. Zum Teil handelt es sich um einfache Bestätigungen von Sachen, die wir längst herausgefunden bzw. vermutet haben, zum Teil sind aber auch vielversprechende Spuren darunter, die wir in den nächsten Monaten verfolgen werden."

"Byers, bitte. Von heute morgen um sieben bis vor einer halbe Stunde habe ich nichts anderes getan, als versucht, Mulder anzurufen, auf seinem Handy und im Hotel, aber ich habe ihn nicht erreicht. Ich habe vierzig Minuten damit verbracht, dem Polizeichef von Godeyes dabei zuzuhören, wie er seinem Busenfreund Walt Skinner mit extra vielen bunten Details erzählt hat, daß Mulder komplett ausgeflippt ist, und glaub mir, das war nicht gerade angenehm. Krycek hat behauptet, Mulder sei in Gefahr, und ich muß wissen wie und warum. Wenn..."

"Diesen Professor O'Reilly gibt es nicht."

Scully schloß für einen Moment die Augen, und als sie sie wieder aufmachte, beschloß sie, doch den Stuhl anzunehmen, den Langly ihr schon die ganze Zeit anbot.

"Mach weiter."

"Oder sagen wir lieber: es gibt ihn erst seit ein paar Jahren. Um genau zu sein, seit dem Zeitpunkt, als Doktor Mark Di Giacomo beschloß, seinen wohlverdienten Ruhestand anzutreten."

"Byers..."

"Ja, ich weiß, du bist müde, und du hast es eilig. Aber wie ich vorhin gesagt habe, haben wir erst einen Teil der Informationen bearbeitet, also laß mich das, was wir haben, ausführlich erzählen, okay? Gut, Dr. Di Giacomo war ein von der CIA bezahlter Wissenschaftler, ein Genie; er ist der geistige Vater des "Haus Der Vergnügen", eines ziemlich komplizierten Apparates, der..."

"...ein Folterinstrument ist, das in viele totalitäre Staaten der Dritten Welt exportiert wird."

"Genau, du hast deine Hausaufgaben gemacht, wie ich sehe. Einfach, billig, effizient. Die Forschungsgebiete des Dr. Di Giacomo erstrecken sich von auditiver und visueller Stimulation bis hin zu Versuchen zur psychischen Auswirkung von extremer Routine am Arbeitsplatz und Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Ich kann dir versichern, daß Di Giacomo großes Ansehen bei den Geheimdiensten vieler Länder besitzt - demokratischer Länder, aber ... wie soll ich sagen ... wenn du erst einmal aus dem großen Spiel ausgeschieden bist, könnte jemand auf falsche Gedanken kommen, wie zum Beispiel, dich aus dem Weg zu schaffen zu wollen, damit du nicht peinliche Geschichten über die "freie Ausübung von Politik" erzählen kannst, die dir unter Umständen eine schöne Rentenzeit auf einer Südseeinsel einbringen könnten. Und so hat Dr. Di Giacomo beschlossen, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, wie man so schön sagt und beschäftigt sich in seiner Freizeit mit ein paar Problemchen für die Agency."

"Problemchen wie Mulder?" fragte Scully leise.

"Nun, so große nun auch wieder nicht. Seine Studien sind größtenteils noch Experimente. Seine Versuchsobjekte sind normalerweise Personen, die unzufrieden mit dem eigenen Leben sind, Leute mit mittlerem Bildungsniveau, die unter normalen Umständen nicht jedem Modeheiligen nachlaufen, aber über die sich ziemlich viele Psychotherapeuten finanzieren. Di Giacomo experimentiert mit einer neuen Generation von mentaler Manipulation - um einen farbigen Ausdruck zu verwenden. Die Leute werden nicht auf ein Bett gebunden und mit Drogen vollgepumpt - im Gegenteil, es sind intelligente Leute, die absolut begeistert von der Gehirnwäsche sind, die an ihnen vorgenommen wird. Die es lieben, dominiert zu werden."

"Klingt nach Scientology." Scullys Stimme troff vor Sarkasmus.

"Falsch. Di Giacomo braucht kein religiöses oder ideologisches Feigenblatt, seine Technik ist auf jeden anwendbar und stützt sich auf keinerlei Apparaturen. Tatsächlich ist sie so erschreckend wirksam, daß es eine Katastrophe wäre - wäre da nicht ein winziges Detail."

"Und das wäre?"

"Seine Konditionierung ist im Moment noch nicht auf breiter Basis anwendbar und zeigt außerdem widersprüchliche Resultate, wenn es nicht Di Giacomo selber ist, der die "Therapie" leitet. Im Moment kann die Menschheit noch beruhigt sein, zumindest jener Teil, der nicht in Di Giacomos kleinem Labor landet."

" Darf ich euch daran erinnern, daß Mulder diplomierter Psychologe, FBI-Agent und außerdem extrem intelligent ist?"

"Darf ich dich daran erinnern, daß Fox Mulder ein sehr sensibler Mensch ist, der stark geprägt ist von persönlichen Erfahrungen, die jeden gebrochen hätten?"

Scully hielt Byers' Blick stand, aber ihre Gedanken waren Meilen entfernt. War Mulder jemand, den man nach den allgemeingültigen Regeln als stark definieren konnte? Mulder war vieles; er war mutig, mutig genug, um Dinge zu sehen, für die alle anderen blind waren; er war hartnäckig, manchmal sogar fast besessen; er war entschlossen, brillant und hatte ein schier unerschöpfliches Reservoir an Energie. Und er war auch stark; wie hätte er sonst die Einsamkeit ertragen können, die Überheblichkeit der anderen, das lange Exil, in das ihn der Rest der Menschheit verbannt hatte?

Ausgenommen immer dann, wenn es um ihn selber ging. Tief in ihm steckte ein masochistischer Instinkt, der ihn in solchen Situationen zu dominieren schien; manchmal hatte sie fast den Eindruck, als würde er es genießen, in alle Ewigkeit mit einem glühenden Eisen in der Brust herumzulaufen.

Sie erhob sich abrupt und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. Tatsächlich war es so, daß es genügte, den Knopf mit der Aufschrift Samantha zu drücken, und der Idiot benahm sich wie ein... Idiot. "Du hast gesagt, diese Menschen seien begeistert von der Gehirnwäsche", sagte sie, sich langsam umdrehend, "Und die Selbstmorde?"

"Vielleicht waren das nur Trockenübungen, während O'Reilly auf Mulder wartete; vielleicht handelt es sich aber auch um Langzeitfolgen der Behandlung." Langly zuckte die Schultern.

"Das kann nicht sein. Hört mal, Mulder ist knapp eine Woche da unten, das, wovon ihr sprecht, würde Monate der Konditionierung brauchen... oder pharmakologische Unterstützung, um..."

"Du findest also, Mulder verhält sich völlig normal?"

"Mulders Verhalten war noch nie normal, ganz zu schweigen von völlig normal."

Sie bereute den Satz augenblicklich, und noch mehr bereute sie den wütenden Tonfall, in dem sie gesprochen hatte. Aber die drei schienen es ihr nicht übel zu nehmen. Frohike drückte ihr freundlich die Schulter. "Du wärst nicht so besorgt, wenn alles in Ordnung wäre."

**********

Er erwachte, aber er machte die Augen nicht auf. Er wollte diesen Moment genießen. Er konnte das Gras in seinem Gesicht spüren; nur jemand, der noch nie eine Nacht auf bloßem Gras verbracht hatte, konnte behaupten, daß es weich war. Er fühlte jeden einzelnen Grashalm, jede Furche, die die Halme in die Haut seiner Wange gezogen hatten. Er spürte, wie das Gras durch den dünnen Stoff seines Hemdes seine Brust kitzelte, die angenehme Wärme der Morgensonne auf seinem Nacken und seiner Seite. Er setzte sich langsam auf und streckte die Arme, langsam ein- und wieder ausatmend.

"Kommst du, Fox? Das Frühstück ist fertig!" Mrs O'Reilly lächelte ihm von der Veranda aus zu, die Hände wie zum Gebet gefaltet; keine Fragen, kein schiefer Blick. Er ging auf das Haus zu. Anscheinend schien er sich daran zu gewöhnen, an allen möglichen Orten zu schlafen. Er fühlte sich hier draußen so wohl, daß es ihm schon fast leid tat, zurück ins Haus gehen zu müssen. Aber warum mußte er eigentlich zurückgehen, wozu, für wen? Ein unangenehmes Gefühl ließ ihn an der Tür innehalten. Die Hand schon auf der Klinke drehte er sich um; und statt der Hügel sah er sein Leben, das FBI, sein leeres, stilles Apartment, sein tägliche Routine... Scully. Er hatte lange nicht mehr mit ihr gesprochen. Er mußte sich erinnern, sie anzurufen, wenn er ins Hotel zurückkam.

"Möchtest du Kaffee oder Milch, Fox?"

Auch ohne sich zu der alten Frau umzudrehen, konnte er sie sehen: das strahlende Gesicht, das Baumwollkleid aus dem Sonderangebot, die Wollpantoffeln.

"Ich muß gehen.", sagte er, überrascht von dem panischen Unterton in seiner Stimme.

"Gehen? Ohne Frühstück? Wohin?"

Ja, wohin? Mulder spürte instinktiv, daß er sich den Luxus, ihr zu antworten, nicht leisten konnte; andernfalls hätte ihn die Unsicherheit, die Angst, die sich in seinem Kopf festgesetzt hatte, wieder übermannt.

"Wohin willst du?", wiederholte die Stimme des Professors, voll Wut, Befehl, Stahl.

Mulder fühlte sich fast physisch abgestoßen, als er sich Schritt für Schritt und immer schneller vom Haus entfernte. Er war unsicher auf den Beinen; jeder, der ihn so gesehen hätte, hätte ihn für einen Betrunkenen gehalten. Seine Füße schleiften über den Boden und stießen Kiesel vor sich her, die die Vögel erschreckten. Die Straße vor ihm war verschwommen, wie in dichten Nebel getaucht, der nur die beiden hellen Fahrrinnen auszumachen erlaubte. Sein Kopf drohte, jeden Moment zu zerspringen, und seine Lunge schaffte es nicht, seinem Körper genügend Sauerstoff zu liefern. Erst, als seine Augen Asphalt wahrnahmen, blieb er stehen und sah sich um.

Es war vorbei. Was immer auch passiert war, es war vorbei; es war ein herrlicher Sonnentag und das Auto, das ihm entgegenkam, fuhr in Richtung Stadt.

**********

Straßenkarten waren eine tolle Erfindung, vor allem mit Ergänzungen von Kollegen, die bereits in der Gegend gewesen waren. Dana Scully hätte einiges dafür gegeben, jetzt eine davon bei der Hand zu haben; kein Auge, nicht ihren Kopf, nicht ihr Gehalt, aber doch einiges, vor allem nach drei Stunden hinter dem Steuer mit dem merkwürdigen Gefühl, dauernd an denselben Kreuzungen und Abzweigungen vorbeizukommen, die sie schon in der Gegenrichtung passiert zu haben glaubte. Zum Glück entdeckte sie schließlich vor sich einen Mann auf der Straße. Blieb nur zu hoffen, daß er nicht auch mit einem neunarmigen Tintenfisch verwandt war wie der Tankwart, der sie vor knapp einer Stunde bedient hatte. Scully grinste, sich an sein Gesicht erinnernd, als er die Hand nach ihrer Brust ausgestreckt und das Halfter ihrer Dienstwaffe erwischt hatte.

Der Mann saß auf dem Randstein und sah, so weit sie das aus dieser Entfernung feststellen konnte, in ihre Richtung. Er kam ihr merkwürdig bekannt vor. Je näher sie kam, desto mehr schien er Mulder zu ähneln. Groß, schlank, kurzes, dunkles Haar, aufrechte Haltung und...

"Mulder." sagte sie leise in die leere Fahrerkabine und beschleunigte, um vor ihrem Partner scharf abzubremsen. Der sah sie erstaunt und verwirrt an, ohne auch nur einen Finger zu rühren.

Scully stieg aus und wiederholte: "Mulder!"

Es gefiel ihr gar nicht, wie er aussah. Er wirkte müde und, ja, abwesend, seine Gedanken schienen weit entfernt zu sein, an einem Ort, der nicht unbedingt schlechter zu sein schien als diese Straße. Andererseits hatte Mulders Hirn es schon immer vorgezogen, nicht da zu sein, wo sich sein Körper befand. *Wie in einer anderen Dimension* dachte Scully, und schalt sich gleich selber, *Immer diese Science Fiction*. Abgesehen davon war er bleich, seine Augen glänzten unnatürlich und ein Schweißfilm bedeckte seine Stirn. Sein weißes Hemd hing ihm zerknittert aus den Jeans, und er hatte weder Pistole noch Handy bei sich.

"Mulder... Mulder, bist du in Ordnung?" fragte sie vorsichtig.

"Ja", antwortete er, zerstreut zuerst, dann mit mehr Überzeugung und einem angedeuteten Lächeln. "Ja, Scully, aber du... was machst du hier?"

Ihre Besorgnis verwandelte sich langsam aber sicher in Wut. "Was ich hier mache? Seit drei Tagen versuche ich dich zu erreichen, Mulder, genauso wie Skinner und das ganze restliche FBI!! Das einzige, was wir in letzter Zeit über dich gehört haben, kam von Mitch Halmond; erinnerst du dich, der Typ, der Skinner Walt nennt? Ich weiß nicht mehr, wie oft ich versucht habe, dich anzurufen, ich hab dir bestimmt tausend Mails geschrieben. Ich wollte im Hotel auf dich warten, aber die haben gesagt, daß sie dich schon ein paar Tage nicht mehr gesehen haben. Und dann war da dieser Aasgeier, Debré... Debris, der den ganzen Tag nichts besseres zu tun hat, als mit dem Ohr an Hoteltüren zu kleben. Hättest du vielleicht die Güte, mir zu erklären, was hier vor sich geht?"

"Ich habe... gearbeitet."

"Ach ja? Und woran genau arbeitest du im Moment?"

"Ich habe..." Er deutete mit einer vagen Geste in Richtung Hügel. "Ich habe mit O'Reilly gesprochen."

"Drei Tage lang?!?"

"Bist du auf dem Weg in die Stadt?"

"Mulder!!" Indignierter Ton, patentierter Scully-Blick, und endlich verwandelte sich der merkwürdige Typ vor ihr in ihren Partner Mulder.

"Ehrlich, Scully, ich arbeite an diesem Fall, zwar nicht mit allzu orthodoxen Methoden, aber das dürfte dich nicht weiter überraschen, oder? Oder würdest du es vorziehen, wenn ich heim zu Walt ginge und ihm erzählte, daß sein Freund sich alles nur eingebildet hat?"

" O'Reilly ist nicht der, der er zu sein vorgibt."

"Das muß hier in der Luft liegen, anders kann ich es mir nicht erklären. Ein Virus, eine Epidemie." Mulder breitete theatralisch die Arme aus. "Tu quoque, Scully?"

"Ja, und ich habe auch den Übertragungsmodus für deinen Virus entdeckt: Telefonleitungen. Die Lone Gunman haben es mir verraten." Jetzt endlich hatte sie seine volle Aufmerksamkeit. "O'Reilly ist ein Ex-Wissenschaftler der CIA. Oder doch wieder nicht so ex."

"In diesem Fall können wir uns die Fragerei sparen, aus ihm werden wir nichts rauskriegen."

"Warum sollten wir ihn befragen, du hast doch gerade gesagt, Halmond habe sich alles nur eingebildet."

Mulder hatte sich ans Auto gelehnt und trommelte nervös mit den Fingern auf der Motorhaube herum. Sein Blick verlor sich in den Feldern.

"Ich weiß. Aber ich denke auch, daß hier etwas nicht stimmt. Allerdings bin ich mir nicht sicher.... Ich glaube nicht, daß O'Reilly..."

"Di Giacomo. Sein wirklicher Name ist Di Giacomo."

" Scully, geh zurück nach Washington, versuch..."

"Ich habe mit Krycek gesprochen."

Der Satz verfehlte seine Wirkung nicht. Mulder fuhr herum.

"War er es? Hat er dich auf O'Reillys Fährte gesetzt?"

"Ja, aber..."

"Scully, geh zurück nach Washington. Hier ist... Wir müssen versuchen, die fehlenden Puzzlestücke zu finden, und ich wage zu bezweifeln, daß wir uns auf Kryceks Tips verlassen können - in diesem Punkt stimmst du mir hoffentlich zu."

Scully stützte ihre Hände in die Hüften und biß sich auf die Unterlippe.

"Aber wonach soll ich suchen? Was...? Waren es nun Selbstmorde oder Morde? Und dieser Di Giacomo... Kryceks Informationen sind glaubwürdig, unsere drei Musketiere haben sie überprüft."

"Scully, es gibt keinen Grund, warum du hierbleiben solltest. Selbst, wenn O'Reilly für die Tode verantwortlich war, was ich persönlich nicht glaube, haben wir nichts gegen ihn in der Hand. Wir können ja noch nicht einmal beweisen, daß es wirklich Morde waren! Es ist wichtig, daß du wieder nach Washington gehst, nimm die Leichen mit und versuch herauszufinden, was sie umgebracht hat, alles, was auch nur im Geringsten mit ihrem Tod zu tun haben könnte."

Mulder bemerkte ihre Unentschlossenheit und faßte sie an den Schultern. "Mir geht es gut, und ich bin überzeugt... ich bin überzeugt davon, daß O'Reilly uns bei der Lösung des Falls helfen kann, und sei es, ohne es zu wollen. Die Tatsache, daß Krycek versucht ihn festzunageln, ist für mich nur ein Grund mehr, das zu glauben. Er ist unschuldig, aber er könnte der Schlüssel sein.... aber zuerst, könntest du mich zum Hotel fahren? Ich brauche dringend eine Dusche."

Scully sah ihn beleidigt an. "Nimm die Leichen mit??"

 

KAPITEL 7

 

Chrissie hatte die Kinder inzwischen bestimmt schon ins Bett gebracht. Er hatte ihnen versprochen gehabt, wenigstens an diesem Abend rechtzeitig heimzukommen, um mit ihnen das Spiel anzusehen, aber die verdammte Pumpe hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Gütiger Himmel, mit dem Geld, das er in den letzten Monaten für diese Pumpe ausgegeben hatte, hätte er eine ganze Eisenhandlung kaufen können! Aber nach der nächsten Ernte würde er sich eine neue anschaffen, so wahr er Chester Hamill hieß. Sein Pick-up schleuderte auf der unebenen Straße und im Schein der starken Scheinwerfer spritzte Schlamm aus den regengefüllten Fahrrinnen. Er war jetzt bei Swensons Haus, zwanzig Minuten von Zuhause entfernt; zwanzig Minuten noch, und er kam endlich aus diesem Höllengefährt. Die Scheinwerfer erhellten den Straßenrand, als der Truck langsamer wurde und um eine Kurve bog... Chester stieg auf die Bremse, und mit quietschenden Reifen schlitterte der Wagen gefährlich nahe an den Abhang. Vor ihm, im Lichtkegel der Scheinwerfer, stand ein Geist. Chester hatte noch nie einen gesehen, aber das, was da plötzlich vor ihm aufgetaucht war mußte ein Geist sein, was sollte es sonst sein? Um ehrlich zu sein, hatte er sich Geister immer anders vorgestellt, erschreckender, furchteinflößend, nicht so wie dieser hier. Chester stieg aus und näherte sich ihm vorsichtig. Nein, das war kein Gespenst, das Licht schien überhaupt kein bißchen durch ihn durch. Es war ein Mann, groß, mager, fast schon ausgezehrt wirkend, mit dunklen Augen, die einen Punkt irgendwo hinter Chesters Rücken fixierten. Er war triefend naß; sein Hemd, das wahrscheinlich irgendwann einmal weiß gewesen war, klebte an seinem Körper, und sein Rippenbogen zeichnete sich viel zu deutlich darunter ab. Seine Jeans waren schmutzverkrustet und seine Füße nackt. Chester kam noch ein paar Schritte näher und sah, daß der Mann zitterte. Er stand da, einfach so, mitten auf der Straße, und schien nicht einmal bemerkt zu haben, daß Chester überhaupt da war. Er mußte einen Unfall gehabt haben, ja, das war es, ein Unfall, auch wenn weit und breit kein Auto zu sehen war. Er mußte Hilfe holen.

"Swenson!" Chester rannte brüllend auf das Haus zu. "Verdammt, Swenson!"

Die Tür öffnete sich unter Chesters hämmernden Fäusten.

"Chester, was zum Teufel..."

"Ruf einen Krankenwagen, da drüben ist ein Unfall passiert! Da ist ein Typ auf der Straße, da drüben, siehst du?"

Der Mann hatte sich nicht von der Stelle bewegt, er hatte sich nicht einmal umgedreht. Während Swenson sich ans Telefon hängte, kehrte Chester zur Straße zurück.

"Hey, Kumpel, hier her, du kannst nicht auf der Straße bleiben; du wirst dir hier draußen den Tod holen."

Er nahm den Arm des anderen und zwang ihn so, sich endlich zu bewegen. Er leistete keinen Widerstand, sondern folgte Chester mit kleinen, unsicheren Schritten, die Augen aufgerissen, der Mund halb offen. Sie brauchten eine Ewigkeit, um zum Haus zu kommen, und auch dort noch zitterte der Mann am ganzen Körper. Er hatte immer noch kein einziges Wort gesagt.

"Hier, setz dich. Der Krankenwagen kommt gleich. War noch jemand bei dir? Warst du alleine im Auto?"

Chester ging noch einmal zurück, um seinen Wagen am Straßenrand zu parken. Dann nahm er die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und ging die Straße entlang, das Gebüsch zu beiden Seiten des Weges absuchend. Aber er fand nicht das geringste Anzeichen dafür, daß ein Auto im Straßengraben gelandet oder gegen einen Baum gefahren war; kein ungewöhnliches Geräusch, keine Hilferufe. Merkwürdig.

Während er zu Swensons Haus zurückkehrte, ging er alle Möglichkeiten durch: es gab keine Gefängnisse oder Ähnliches in der Gegend, keine Krankenhäuser, und das nächste bewohnte Zentrum war Godeyes, über dreißig Meilen entfernt. Wo mochte der Mann nur hergekommen sein?

**********

Ein Teil von ihr war immer noch im Bett; der andere, jener, der es geschafft hatte, aus dem Bett zu springen und sich in die kalte Nacht zu stürzen, verfluchte das schlechte Wetter und die nasse Straße. Als Arzt sollte sie es eigentlich gewohnt sein, zu allen Tages- und Nachtzeiten und bei jeder Temperatur einsatzbereit zu sein, aber Katherine Seabright fühlte sich in derartigen Situationen regelmäßig wie ein nasser Lappen, und sie konnte nicht anders, als festzustellen, daß es eigentlich sie hätte sein sollte, die ihren Jeep lenkte, und nicht, so wie jetzt, umgekehrt. Und das war noch gar nichts im Vergleich dazu, wie sie sich am nächsten Tag fühlen würde.

Vielleicht bewies es nicht gerade eine allzu samaritanische Haltung dem Unglücklichen gegenüber, der sich ausgerechnet jenen gottverlassenen Ort für seinen Unfall ausgesucht hatte, aber sie war insgeheim froh darüber, daß sie mindestens eine halbe Stunde brauchen würde, um dorthin zu kommen; dreißig Minuten, die sie bitter nötig hatte, um ausreichend wach zu werden, um sich an die grundlegendsten Erste-Hilfe-Maßnahmen zu erinnern. Ein Kaffee wäre jetzt das höchste der Gefühle gewesen; vielleicht war Swenson ja zu einem guten Werk zu überreden.

Am angegebenen Ort sah sie nur einen einsamen Pick-up, keine Spur von der Kavallerie. Wahrscheinlich war der Unfall hinter der Kurve passiert. Sie hielt vor der Haustür und sprang aus dem Jeep. Natürlich voll in eine Pfütze. Na toll.

"Hier entlang, Kathy, er ist in der Küche."

Swenson sah aus wie nach einer Unheimlichen Begegnung der Dritten Art, aber der Mann, der da zusammengekauert und in eine schwere Decke gehüllt in einer Ecke des Raums saß, sah so gar nicht aus wie ein Außerirdischer. Eher wie der FBI-Agent, den sie vor einer Woche kennengelernt hatte.

Auf den ersten Blick sah er ziemlich mitgenommen aus, aber um das festzustellen hätte sie keinen Doktor der gesamten Heilkunde gebraucht. Er war extrem bleich, und sein weit aufgerissenen Augen starrten auf etwas, das nur er sah. Wenn sich seine Brust nicht kaum merklich gehoben und gesenkt hätte, hätte man daran zweifeln könne, daß er noch am Leben war. Er hatte die rechte Hand zu einer Faust verkrampft, so fest, daß sie blutete, aber soweit sie sehen konnte, war das auch die einzige äußere Verletzung, die er hatte. "Ich habe kein Auto gesehen, als ich hergekommen bin; ist der Unfall weit von hier passiert?" fragte sie, während sie vor dem Mann in die Hocke ging und vorsichtig die Decke wegzog. Mulder schien nicht zu bemerken, was um ihn herum vorging.

"Nein. Ich meine, es gibt kein Auto." antwortete Chester, verlegen von einem Fuß auf den anderen tretend.

"Ihr habt es nicht gefunden?"

"Äh, ja. Aber... ähm... wie geht's ihm?"

*Gute Frage* dachte Kathy und nahm das Handgelenk des FBI-Agenten. Der Puls war etwas beschleunigt, aber nicht genug, um die Diagnose "Schock" zu rechtfertigen.

"Agent Mulder, können Sie mir sagen, was passiert ist?"

"Du kennst ihn?" Chesters Erleichterung war ihm deutlich anzumerken; seine Geistertheorie war endgültig widerlegt. Dr. Seabright beachtete ihn gar nicht, ihre ganze Aufmerksamkeit war auf Mulder gerichtet, der kein Anzeichen dafür zeigte, daß er sie verstanden hatte.

"Agent Mulder, hatten Sie einen Unfall?" Nichts. Langsam fing sie ernsthaft an, sich Sorgen zu machen. "Erkennen Sie mich, Mulder? Ich bin Katherine Seabright, wir haben uns vor ein paar Tagen kennengelernt; Miss Sunflower, erinnern Sie sich? Sind Sie verletzt?"

Vorsichtig hob sie seinen Kopf, um sein Gesicht und seine Augen besser sehen zu können. Er hatte keine äußeren Verletzungen und keine Anzeichen eines Schädeltraumas. Ihre Finger tasteten seinen Nacken ab, seinen Hals, seine Wirbelsäule; alles schien in Ordnung zu sein, aber seine Haut war trotz der angenehmen Temperatur in der Küche eiskalt. "Können Sie mir sagen, was passiert ist? Haben Sie Schmerzen?" Ihre Hände rutschten tiefer, untersuchten seine Schultern und seine Brust. Dann knöpfte sie sein Hemd auf und tastete die Rippen ab, die sich allzu deutlich unter der Haut abzeichneten. "Arme, Beine, alles noch da, wo es hingehört?"

Ein leichtes Kopfnicken. *Sehr gut, Mulder* dachte sie und lächelte. Sie machte Anstalten aufzustehen, um ihren Arztkoffer zu holen, den sie auf den Tisch gestellt hatte, doch eine Hand packte ihr Handgelenk und zwang sie, sich wieder hinzuknien. "Ganz ruhig, alles ist in Ordnung. Ich gehe nicht fort. Ich bleibe hier bei Ihnen, okay? Chester, gib mir den Koffer."

Ein lautes Poltern an der Eingangstür sagte ihr, daß ein alter Bekannter gekommen war. Mulders Griff um ihr Handgelenk wurde fester, und sie streichelte zärtlich seinen Arm.

"Also, was fehlt unserem FBI-Freund?" Sheriff Halmond erschien auf der Schwelle, "Kann ich ihn am Stück zurückschicken oder muß ich viele kleine Päckchen machen?"

"Hast du vergessen, daß ich hier im Moment die einzige bin, die ihn irgendwohin schicken kann, Sheriff?" antwortete Kathy in ihrem speziell für Halmond reservierten Ton. Zwischen ihnen war das Liebe auf den ersten Blick gewesen; wie zwischen einer hungrigen Löwin und einem schlechtgelaunten Elefanten. "Und ich schicke ihn ins Bett, natürlich erst, nachdem ich ihn eingehend untersucht und ein paar Tests gemacht habe. Und um deine Frage zu beantworten: ich glaube nicht, daß ihm viel fehlt, zumindest nichts Physisches."

"Dann ist er also einfach verrückt geworden, was? Stell dir vor, die Diagnose habe ich schon drei Tage vor dir gestellt."

"Weist du, Mitch, es liegt nicht nur an deinem Humor, wenn du immer wieder die Wahlen gewinnst, es ist deine umwerfende Sensibilität. Habt ihr übrigens das Auto gefunden? Gibt es andere Verletzte?"

"Nun..." Halmond wirkte plötzlich verlegen; nein, er wirkte nicht nur so, er war tatsächlich verlegen, und das war ein Ereignis, das förmlich nach einer Eintragung im Kalender schrie.

"Nun was?"

"Wir haben nichts gefunden. Vielleicht ist er zu Fuß gekommen?"

"Meilenweit vom nächsten Haus entfernt, und das in diesem Sturm? Nein, es liegt nicht an der Sensibilität, sondern an der Intelligenz.", seufzte sie. Ihr Blick kehrte zu Mulder zurück. Er hatte sich nicht bewegt, und sie hatte keine Möglichkeit festzustellen, ob er das Gespräch verfolgt hatte. Sie hoffte nicht. Irgend etwas hatte ihn zu Tode erschreckt, und sie hatte das vage Gefühl, daß sie gar nicht wissen wollte, was es gewesen war.

**********

Sie war erst gegen fünf Uhr wieder ins Bett gekommen, und als ihr Wecker sie brutal in die Realität zurückgeholt hatte, waren gerade mal drei Stunden vergangen gewesen. Ein Vormittag voller Arbeit und Kaffee hatte sie auf den Beinen gehalten, obwohl sie sich wie prophezeit fühlte wie ein nasser Lappen, und hinderte jetzt ihren Magen daran, beim Anblick einer Schüssel Yoghurt mit Cornflakes Freudensprünge zu machen. Um die Wahrheit zu sagen machte er zwar tatsächlich Sprünge, aber die waren einer ganz anderen Art. Die Klingel bewahrte sie vor der schwierigen Entscheidung, ob sie jetzt essen sollte oder doch lieber gleich ins Bett kriechen. Kathy ging zur Tür in der Hoffnung, daß davor nicht Halmond stand, der kontrollieren kam, ob sie sich den FBI-Agenten mit ins Bett genommen hatte. Als er gestern nacht ihre Wohnung verlassen hatte, Mulder und sie alleine zurücklassend, hatte sein Blick Bände gesprochen. Schade nur, daß er zu spät gekommen war. Mulder war schon vor einer Weile gegangen; sie hätte die Szene genossen. Mulder und sie in einem Bett, Halmond läutete, und sie beeilte sich, von der Bettkante unter die Decken zu schlüpfen... und das alles nur, um den Sheriff zu schockieren. So weit war es schon mit ihr gekommen. Aber nein, er hatte ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Sie hatte es nicht geschafft, ihn in ein Krankenhaus zu bringen, er wollte zuerst ja nicht einmal mit in ihre Praxis kommen. In dieser Beziehung hatte sie auf Granit gebissen, seine Antwort war knapp, aber deutlich gewesen: "Ich will nicht." Weil er keine beunruhigenden Verletzungen zu haben schien, hatte sie schließlich nachgegeben, besonders, als er sich überreden ließ, mit in ihre Wohnung zu kommen, wo sie ein Auge auf ihn haben konnte. Sie hatte ihn ein langes, heißes Bad nehmen lassen, hatte ihm eine alte Jogginghose ihres Bruders gegeben, die schon seit Ewigkeiten bei ihr herumlag, und hatte ihn ins Bett geschickt, nachdem er ein Aspirin genommen hatte. Als er eingeschlafen war, schien er sich schon fast vollständig erholt zu haben - von was auch immer.

Am nächsten Morgen war er ziemlich früh aufgewacht, entspannt und guter Laune, war während des Frühstücks gekonnt allen ihren Fragen ausgewichen und hatte sich mit einem artigen Dankeschön aus dem Staub gemacht - sogar in halbwegs anständigem Aufzug dank einer dunklen Hose, eines Sweat-

Shirts und eines Paares Turnschuhe ihres furchtbar berühmten, furchtbar gedankenlosen und furchtbar unordentlichen Bruders.

Kathy öffnete die Tür und Halmond musterte sie mit einem wissenden Lächeln.

"Was macht unser Freund aus Washington?"

"Nun, ich habe ihn eingehend untersucht", sie betonte das Wort "untersuchen" besonders deutlich und ging ins Wohnzimmer. Der Scheriff folgte ihr auf dem Fuß. "Und, hast du irgend etwas feststellen können? Ich meine, etwas, das mich interessieren könnte?"

"Leider habe ich nichts gefunden. Nicht einmal etwas, was dich interessieren könnte." Zu müde, um das Spielchen weiter zu spielen, ließ Kathy sich mit einem Seufzer auf einen Polstersessel fallen, "Es geht ihm gut, zumindest physisch. Er war desorientiert, verwirrt, aber das war vorbei, als er sich erst einmal aufgewärmt und etwas gegessen hatte. Nach ein paar Stunden Schlaf war er wieder völlig in Ordnung. Er wollte nicht ins Krankenhaus, und ich konnte ihn schließlich nicht hinprügeln. Als er gegangen ist, schien er okay zu sein."

"Was ist deine Meinung als Arzt?"

Was war das eben denn gewesen? Leider war die Medizin nun mal nicht die exakte Wissenschaft, für die alle sie hielten. Aber die Leute glaubten weiterhin stur daran, daß Ärzte alles zu wissen hatten, allem einen Namen geben konnten und für alles ein Gegenmittel parat hatten. Andererseits gab es natürlich auch viele Ärzte, denen diese Wunderheiler-Aura gefiel, und das war auch der Grund dafür, warum man sogar einen schönen lateinischen Ausdruck für alle Sachen erfunden hatte, für die man keinen Grund wußte: idiopathisch. "Sie leiden an einer idiopathischen Migräne" klang doch viel besser als "Tut mir leid, ich weiß leider nicht, warum Sie Kopfschmerzen haben". Aber wenn Halmond das zum Glücklichsein brauchte, konnte sie ihm den Gefallen tun. Wenn sie nur nicht so müde gewesen wäre.

"Okay. Meine ärztliche Meinung. Anfänglich hatte ich an eine Commotio gedacht, eine Contusio Cerebri vielleicht, aber seine Pupillen waren isocor und der Pupillenreflex seitengleich und prompt. Er zeigte keine Anzeichen einer retrograden Amnesie oder erhöhten Hirndrucks", sie hätte auch sagen können, daß es unwahrscheinlich war, daß er Kopfverletzungen hatte, ohne die geringste äußere Verletzung, aber das wäre ja nicht wissenschaftlich gewesen, "Sein Schockindex war 1,5, und er hatte eine gute Punktezahl auf der Glasgow-Coma-Scale. Als ich gekommen bin, war er aufgrund der Hyperventilation in eine respiratorische Alkalose gerutscht, die sein Organismus aber selber kompensiert hat." Anders ausgedrückt: er hatte sich bald wieder beruhigt. "Er wies keine Frakturen auf, keine Lazerationen, keine Hämatome. In anderen Worten: nichts."

"Drogen?"

"Ein FBI-Agent?" Kathys Lachen hallte im Raum wieder.

"Warum nicht?"

"Wie auch immer. nein."

"Sicher?"

"Ganz sicher." Glaubte er, sie hätte so etwas nicht gemerkt? Dann war er wirklich ein Idiot. Idiopathisch.

"O'Reilly." murmelte der Scheriff, und dieses Mal war es keine Frage.

**********

Der Anrufbeantworter trat pflichtschuldig nach zwei Klingelzeichen in Aktion; Scully hatte vergessen, ihn auszuschalten, als sie zu Bett gegangen war. Die üblicherweise zugrundeliegende Überlegung war, daß die wenigen Personen, die ihre Nummer hatten, sie nicht mitten in der Nacht anriefen, wenn sie nur einen Gruß hinterlassen wollten - und deswegen lief bei ihr eben nachts kein Anrufbeantworter.

Da sie vergessen hatte, den Anrufbeantworter abzuschalten, hatte sie auch nicht daran gedacht, das schnurlose Telefon neben das Bett zu legen, und so taumelte sie noch aus dem Schlaf- ins Wohnzimmer, als auf der anderen Seite der Leitung jemand zu sprechen begann.

"Hallo, Scully, schläfst du?"

Noch ein paar unsichere Schritte, und ihr Knie machte nähere Bekanntschaft mit der Kante des niedrigen Wohnzimmertischchens - getreu des von der modernen Wissenschaft inzwischen Großteils anerkannten Paradigmas, daß Kanten und Stufen im Dunkeln unproportional an Größe zunehmen. "Hey, Scully, kommst du jetzt oder hast du endlich einen Typen gefunden, der es mit dir aushält?"

"Mulder!"

Ein gedämpftes Lachen am anderen Ende.

"Mulder, wo bist du?"

"Ähm... auf einer Wiese."

"Geht es dir gut?"

Lachen.

"Mulder, was machst du mitten in der Nacht auf einer Wiese?"

"Ich sitze da und denke nach."

"Oh, wie dumm von mir, das ist doch offensichtlich."

"Habe ich dich geweckt?"

"Aber nein, was glaubst du denn. Du weist doch, daß ich nicht mehr schlafen kann, seit ich dich kenne. Ich verbringe meine Nächte seither mit 'er liebt mich, er liebt mich nicht's."

"Das wußte ich, aber ich bin ein Kavalier, deshalb habe ich so getan, als hätte ich keine Ahnung."

"Wie gehen die Ermittlungen voran?"

Ein kurzes Zögern, dann wurde seine Stimme plötzlich ernst. "Na ja, eigentlich überhaupt nicht. Ich hatte gehofft, du könntest mir etwas erzählen."

"Zu früh. Ich hätte dich angerufen, wenn ich etwas herausgefunden hätte."

"Stimmt, aber ich hatte befürchtet, dein intenses Privatleben könnte dich ablenken."

"Mulder, warum dieses plötzliche morbide Interesse an meinem Sexualleben?"

"Blanker Neid, denke ich, und außerdem habe ich mich gefragt... nun..."

"Mulder?"

"In deinem Testament, vermachst du mir da deinen Küchentisch? Meiner macht's nicht mehr lange."

"Mulder!!!"

"Scully!!! - Godeyes - Zentrum des Drogenhandels? Das FBI ermittelt. - "

"Ich fürchte, ich kann dir so spät nachts nicht folgen."

"Das ist der Titel von Debris neuem Artikel, der morgen erscheint."

"Danke, daß du mir ihn im Voraus verraten hast, ich bin nicht sicher, ob ich sein Blättchen hier in Washington auftreiben kann."

"Zu Ihren Diensten."

"Gute Nacht, Mulder."

 

KAPITEL 8

 

Dr. Seabright schaltete den Mixer aus und beschloß, um Aufnahme in den medizinischen Staff der Toronto Braves anzusuchen, wenn das an der Tür schon wieder Halmond war.

Aber vor ihrer Tür stand nicht Halmond, und der Unterschied war gewaltig. Perfekt geschnittenes, bronzefarbenes Haar, Kostüm von schlichter Eleganz, selbstsichere, kompetente Austrahlung - und noch etwas, das sie nicht definieren konnte. Katherine hatte den leisen Verdacht, daß, sollte diese Frau je mit einem Zug zusammenkrachen, der Zug das Nachsehen haben würde.

"Guten Tag." sagte die Frau, und zog ohne weitere Vorreden ein ID aus der Tasche, "Agent Dana Scully, FBI." "Lassen Sie mich raten, Agent Mulders Vertrauensärztin." antwortete Kathy, den Ausweis ignorierend, "Kommen Sie herein - Willkommen in Godeyes Town, dem Stolz von New Mexico."

Die FBI-Agentin folgte ihr den Gang entlang bis zur Küche. Sie sah sich um und blickte dann wieder Kathy an, ruhig, entschlossen, und nur ein dunkler Schatten in Höhe ihres rechten Jochbogens durchbrach die porzellanene Perfektion ihres Gesichts. Vielleicht hatte sie ihre Begegnung mit dem Zug ja schon hinter sich.

"Sie sind Dr. Katherine Seabright." Es war viel eher eine Feststellung als eine Frage.

"Genau. Gemeindeärztin dieses kleinen, aber feinen Städtchens, und außerdem die Gerichtsmedizinerin, deren Arbeit sie begutachtet haben. Aber zum Glück werden meine Dienste als letzteres hier nicht sehr oft gebraucht."

"Außer in letzter Zeit." Ein Funken glomm in ihren unglaublich blauen Augen.

Die Frau gefiel ihr.

"Stimmt. Ich muß Ihnen gestehen, daß die Ereignisse der letzten Wochen mich ziemlich beunruhigen, und das nicht nur, weil sie die Qualität meiner Arbeit in Frage stellen. Es mag Ihnen merkwürdig vorkommen, aber als ich Ihnen meinen Bericht geschickt habe, hoffte ich fast, sie würden feststellen, ich sei nur ein mittelmäßiger Provinzarzt ohne die nötige Erfahrung, und daß James, Molly und Andrew wirklich ermordet worden sind. Das wäre natürlich schlimm, aber wenigstens... eine Erklärung. Das heißt nicht allerdings nicht, daß ich deswegen meine Pflichten als Gastgeber vernachlässigen muß - darf ich Ihnen etwas anbieten?"

Glücklicherweise zeigte sich ihre Wohnung heute von ihrer besten Seite, und nicht wie üblich in dem Chaos, das sie gemütlich nannte, auch wenn ihre Mutter gelegentlich härtere Worte dafür fand.

Scully setzte sich, und Kathy kam nicht umhin festzustellen, daß ihre Art sich zu bewegen, in beeindruckender Weise an Francis erinnerte.

"Francis, böser Kater, geh da weg!", rief sie ohne besonderen Nachdruck, während sie der Katze insgeheim dafür dankte, daß sie ihr einen Grund dafür geliefert hatte, ihr Mittagessen wegzuwerfen. Eine Entscheidung weniger. Sie lehnte sich Scully gegenüber an die Anrichte.

Scully beobachtete, wie der dreifarbige Kater mit den von Yoghurt triefenden Schnurhaaren vom Tisch sprang, sich indigniert streckte und in einem halboffenen Einbauschrank verschwand.

"Dr. Seabright, Scheriff Halmond hat mir gesagt, daß mein Kollege Mulder vor ein paar Tagen einen... Unfall hatte."

Kathy bemerkte eine Falte in der "beruflich-alles-rein-berufllich"-Haltung der Agentin.

"Nennen Sie mich Kathy. Hat Halmond Sie zu mir geschickt?"

"Gewissermaßen." Sie lächelte gequält und fuhr dann fort, "Ich hatte den Eindruck, daß Mulder ihm nicht gerade sympathisch ist - und mit ihm ganz Washington."

"Haben Sie je daran gedacht, ins diplomatische Chor einzutreten? "Nicht gerade sympathisch" halte ich für eine grobe Untertreibung. Ich würde den Vorfall aber nicht unbedingt Unfall nennen. Ich fürchte, Ihre Einschätzung meiner Professionalität wird gleich entschieden unter Null sinken."

"Dana. Und ich versichere Ihnen... dir, daß ich deine Professionalität sehr zu schätzen weiß." Das war die Wahrheit. Dana Scully hielt Katherine Seabrights Autopsiebericht für hervorragend, und sie hatte keinen Grund, an ihrem Geschick im Umgang mit Lebenden zu zweifeln.

"Er war... verwirrt, wenn du diesen profanen Ausdruck erlaubst."

"Commotio?" schlug Scully vor, in der Hoffnung, nicht allzu schulmeisterlich zu wirken. "Nein, er hatte keine einzige äußere Verletzung, nicht einmal einen blauen Fleck. Er hat hyperventiliert, als ich gekommen bin, wahrscheinlich hatte er eine leichte Alkalose, aber nichts Schlimmes. Er hat sich strikt geweigert, sich röntgen zu lassen., aber ich habe es geschafft, ihn zu überreden, die Nacht bei mir zu verbringen - um ihn zu beobachten, natürlich." Sie spürte, wie sie langsam rot anlief, "Morgens ist er dann gegangen. Er sah besser aus, aber ich weiß nicht, wie gut er schauspielern kann. Ich hab's nicht versucht, aber ich bezweifle, daß ich es geschafft hätte, ihn aufzuhalten."

Scully nickte. Das war typisch Mulder; und irgendwie war das ein gutes Zeichen. Und trotzdem, er war nicht dumm. Dickköpfig vielleicht, besessen, manchmal unausstehlich, aber nicht dumm. Er mußte einen guten Grund gehabt haben, sich so davon zu machen. "Was kannst du mir über diesen O'Reilly sagen?"

"Nun, ich lebe nach dem Grundsatz 'Leben und leben lassen'. O'Reilly ist, soweit das mich betrifft, ein ruhiger Mensch, der niemanden stört. Aber ich habe ihn persönlich auch nie kennengelernt; ich bin seit acht Jahren hier und er hat meine Dienste nicht ein einziges mal in Anspruch genommen."

"Nicht einmal eine Grippe? Ein gesunder Mann."

"Er ist keine große Ausnahme. Es gibt hier Leute, die mit einer wahren Roßnatur gesegnet sind, andere ziehen alternative Heilmethoden welcher Art auch immer vor, und wieder andere würden lieber sterben, als sich von einer Frau untersuchen zu lassen. Natürlich habe ich die Gerüchte gehört, die über ihn im Umlauf sind, auch die über die Dämonen, die im Stall seiner Farm wohnen, und ich gebe zu, daß ich mich ein paarmal gefragt habe, wieviel Wahres da dran ist, aber..."

Das Läuten des Telefons unterbrach sie jäh. Sie ging zu dem Tischchen neben der Tür, wo der Apparat stand, aber die Katze war schneller. Sie schoß aus dem Schrank wie ein geölter Blitz und stellte sich breitbeinig und mit herausforderndem Gesichtsausdruck vors Telefon; ganz so, als wäre sie eine richtige Katze vor einem richtigen Mauseloch. Scully hatte keine große Erfahrung mit Katzen, aber sie hätte schwören können, daß sie das Tier vor Vorfreude sabbern gesehen hatte.

"Ich weiß nicht, warum, aber er liebt das Telefon. Vielleicht, weil ich jedes Mal gezwungen bin, ihn zu streicheln, wenn ich an den Hörer will." Kathy nahm den Hörer ab, pflichtschuldig ihren Kater kraulend. "Seabright." Sie sagte nichts mehr bis zum Schluß, als sie das Gespräch mit einem lakonischen "Ich bin sofort da." beendete. Dann hängte sie auf und sagte mit müder Stimme: "Es hat noch einen Toten gegeben. Würde es dir etwas ausmachen, mich zu begleiten?"

**********

Die Szene sah aus wie das Set für einen Film, obwohl die blau und rot blitzenden Lichter der Polizei und der Feuerwehr eher den etwas unpassenden Eindruck einer Freiluftdisko vermittelten. Mit der Ausnahme, daß niemand außer den paar Schaulustigen sich hier wirklich zu vergnügen schien. Im Zentrum des allgemeinen Interesses stand ein alter Truck, halb verborgen zwischen den Büschen am Straßenrand. Im Gegenlicht war die Silhouette eines Körpers auf dem Vordersitz deutlich auszumachen.

Ein junger Deputy winkte sie von der Straße und näherte sich mit dem ziemlich verunglückten Versuch eines Lächelns.

"Bei der Anfahrtszeit, die Sie brauchen, würde ja jeder draufgehen, Doc."

"Dein Chef hat mir verboten, das Blaulicht zu verwenden, es sei denn, es handelt sich um einen Notfall, das weißt du doch, Jim. Und ein Toter scheint mir nicht gerade ein Notfall zu sein."

Jim wirkte immer noch stocksteif.

"Dieser Tote schon. Es ist Bawinsky."

Das mußte eine Art godeyesches Zauberwort sein, denn Kathy lief sofort los, auf den Truck zu, der Deputy dicht auf ihren Fersen. Scully folgte ihnen überrascht, aber langsamer. Wenn diese Typ tot war, dann war es unwahrscheinlich, daß sie noch etwas für ihn tun konnten. Sogar Mulder hätte das eingesehen.

Aber Kathy hatte gar keine derartigen Ambitionen, sie hatte nur mit eigenen Augen sehen wollen, was der junge Polizist gesagt hatte. Und Scully konnte ihr vom Gesicht ablesen, daß Jimmy Boy recht gehabt hatte. Es war Bawinsky, und er war entschieden tot.

"Entschuldigung, aber könnte mich vielleicht jemand aufklären? Wer zum Teufel ist dieser Bawinsky?" fragte Scully und zog damit den indignierten Blick von fünf Polizisten auf sich.

"Halmonds Schwager." sagte Jim leise.

"Der Direktor unserer High School." fügte einer seiner Kollegen hinzu, der aussah, als hätte er vor noch nicht allzu langer Zeit genau diese High School besucht.

"Und der erbittertste Gegner O'Reillys." schloß Kathy. Dann schüttelte sie den Kopf, "Aber bevor wir voreilige Schlüsse ziehen, wollen wir doch erst einmal sehen, was unser der gute alte Bawinsky zu sagen hat, was meinst du, Dana?" *****

"Warum hast du die Ausbildung zum Gerichtsmediziner gemacht?", fragte Scully, während sie vorsichtig das Hemd des Toten aufknöpfte. Auch scheinbar hundertprozentige Selbstmordfälle hatten sich schon als gar nicht mehr so hundertprozentig sicher erwiesen, zum Beispiel weil niemand sich die Mühe einer genaueren Untersuchung gemacht hatte, und der Totengräber dann beim Einsargen Projektile unter dem Körper gefunden hatte. Allerdings war das bei Bawinsky nicht so.

"Ich fand das Gebiet interessant; Männer, die draufgehen, weil sie betrunken von einer Brücke uriniert und dabei die Hochspannungsleitung getroffen haben, sechs Monate alte Wasserleichen, autoerotische Asphyxie... alles ungeheuer spannend. Du willst mir doch nicht weismachen, du hättest die Spezialisierung wegen des fürstlichen Gehalts gewählt?" Kathy hatte die Pupillen des Toten untersucht und sah sich nun einen dunklen Fleck an seinem Unterarm an; für einen unbeteiligten Beobachter hätte es den Anschein gehabt, als würde sie ihn massieren.

"Ach, bei mir war's Schicksal. Irgend jemand da oben muß wohl gewußt haben, daß Mulder früher oder später jemand brauchen würde, der vor oder hinter ihm - je nachdem - aufräumt. Jemand mit starkem Magen und einem mindestens doppelt so sturem Schädel. Ein Leichenfleck?"

"Ja. Keine Anzeichen für eine Kohlenmonoxidvergiftung. Na ja, anfangs wollte ich etwas machen, das einfach genug zum Leben einbringt, wenn möglich etwas, das noch dazu mit Lebenden zu tun hat. Deshalb habe ich Allgemeinmedizin gemacht, ich wollte eine nette kleine Praxis in Chicago... ich stamme von da. Und jetzt sieh an, wo ich gelandet bin. Mein Arm ist weich, deiner?"

"Meiner auch. Ich würde sagen, wir können in wegbringen lassen. Fürs erste sind wir hier fertig."

"Ich denke auch. Jim, wir sind fertig." Jim rannte weg, froh, sich vom Leichnam entfernen zu können. Halmond hingegen kam zögernd näher, den Kopf zwischen den Schultern vergraben, das Gesicht wie versteinert.

"Seit wann ist er tot?"

"Seit nicht mehr als drei Stunden,", antwortete Scully, während sie sich die Handschuhe auszog, "Genaueres kann man erst nach der Autopsie sagen. Macht es dir was aus, wenn ich dabei bin, Kathy?"

"Ich hätte dich sowieso darum gebeten."

"Wer hat ihn gefunden?" Scully hatte mit den Handschuhen ihre Rolle als forensische Pathologin abgelegt und war nun wieder ganz FBI-Agentin. Halmond wußte noch nichts davon, aber Skinner hatte sie offiziell mit dem Fall betraut. Mit dem Fall Mulder zumindest.

"Eine der Streifen. Janey... meine... meine Schwester hat mich angerufen, weil er nicht zum Abendessen gekommen war und sie sich Sorgen gemacht hat."

**********

Ich habe viele Jahre meines Lebens damit verbracht, die Wahrheit zu suchen, ohne mich darum zu kümmern, was mich das kosten würde. Was das jenen kosten würde, die mir nahestanden. Ich habe nie an das Leid gedacht, das ich denen, die ich liebe, zugefügt habe, nur um eine fadenscheinige Ausrede für meine Schwächen zu finden.

Es ist meine Schuld, daß Samantha fort ist. Ich glaube, ich habe das nie geleugnet, aber offensichtlich habe ich mir vorgemacht, es akzeptiert zu haben, während ich in Wahrheit unter dem absurden Vorwand, sie finden zu wollen, nur nach einer Absolution für meine Feigheit gesucht habe. Eine Absolution, die ich nicht verdiene und nie erreichen werde. Meine Blindheit wurde von all jenen bezahlt, die ich geliebt habe. Von meinen Eltern, meinen Freunde, sogar von unschuldigen Fremden, die meinen Weg gekreuzt haben und von meinem Mangel an Mut, mich meiner Verantwortung zu stellen, überrollt wurden.

Wie viele Menschen sind gestorben, nur weil ich die Wahrheit nicht sehen wollte, nicht sehen wollte, wer ich wirklich bin? Wie viele habe ich mit meiner Feigheit an die dunkelsten, schrecklichsten Orte gebracht?

Ich kann den Alptraum meines Hochmuts nicht mehr ertragen.

Ich suche keine Vergebung mehr; das wäre nicht gerecht. Ich möchte nur, daß alle wissen, daß ich endlich die Wahrheit gefunden habe, die ich so lange gesucht habe.

Fox

Dana Scully las Mulders E-Mail immer und immer wieder. Sie wog Wort für Wort ab, wiederholte jeden einzelnen Satz im Geiste, probierte den Klang jedes Wortes und versuchte, die verborgene Bedeutung dahinter zu entschlüsseln. Denn es mußte eine geben, irgendwo, andernfalls waren die Sätze nur sinnlose Aneinanderreihungen von Worten.

Wieder wählte sie Mulders Handy-Nummer. Wieder antwortete ihr die mechanische Stimme des Anrufbeantworters.

Als sie die Nachricht zum ersten Mal gelesen hatte, hatte sie beschlossen, daß keine Zeit für philosophische Überlegungen blieb. Sie hatte augenblicklich Skinner verständigt, und der Stein war ins Rollen gekommen; die Telefonleitungen zu den lokalen Polizeistationen und dem zuständigen Field-

Office waren heißgelaufen, und Direktor Skinner hatte allen mehr als deutlich gemacht, was er wollte und was nicht.

Jetzt, in der Stille ihres Hotelzimmers, während Mulders Worte wie Skalpellklingen in ihr Innerstes schnitten, schaffte sie es nicht, sich ihren Partner vorzustellen, was er machte, was er dachte. Sie hatte Skinner gebeten, in Godeyes bleiben zu dürfen, wo Halmonds Männer, FBI-Beamte und Männer des Zivilschutzes die Gegend Zentimeter für Zentimeter untersuchten.

**********

Das hier war ihr Zentimeter. Der Korridor war leer. Scully trat aus dem Aufzug, die Pistole eng an ihrem Körper haltend. Sie würde sich nicht noch einmal so überrumpeln lassen, dieses Mal würde sie es sein, die die Spielregeln diktierte. Vorsichtig näherte sie sich dem Zimmer mit der Nummer 112. Es war nicht schwer gewesen, den richtigen Namen aus der Liste des Portiers zu finden, Godeyes war nicht gerade eine Touristenmetropole, und dieser 'Rick Deckart' unter den wenigen Gästen des Hotels hatte sie sofort stutzig werden lassen. Die Tatsache, daß sie einen ausgeprägten Realitätssinn besaß, zog nicht automatisch eine Abneigung gegen Science-fiction nach sich, wie Krycek zu glauben schien, auch wenn sie geflissentlich alle Bücher vermied, die Mulder in seiner ausgedehnten Bibliothek hatte. Wie auch immer, sich ausgerechnet den Namen der Hauptfigur eines Klassikers des Genres auszusuchen, grenzte schon an pure Dummheit. Oder aber es gehörte zum Plan. Es war schon fast zu leicht gewesen, ihn aufzuspüren, und wenn sie eines über Krycek gelernt hatte, dann war das, ihn nicht zu unterschätzen.

An der Türklinke hing ein Schild, das eine bettzipfelmützte Katze in einem riesigen Himmelbett zeigte und die Aufschrift: "Bitte nicht stören" trug. Scully grinste beim Gedanken, Krycek mit heruntergelassenen Hosen zu überraschen. Aber die Erinnerung an seinen nächtlichen Besuch und seine Blicke war noch zu frisch, um diesen Gedanken wirklich erheiternd zu finden.

Sie spielte kurz mit der Idee, die Tür einzutreten, aber das würde nicht so einfach sein, wie es im Fernsehen immer aussah; außerdem hatte sie keine Lust, ihm Zeit zum Reagieren zu geben. Sie lauschte an der Tür und lächelte.

**********

Als Krycek aus dem Bad trat, war Scully bereit, ihn zu empfangen. Dank der freundlichen Unterstützung eines Zimmermädchens mit einer geheimen Vorliebe für Liebesromane und des Rauschens der Dusche war es ein Kinderspiel gewesen, unbemerkt ins Zimmer zu kommen. Sogar aufregend. [Wissen Sie, mein Verlobter hat Geburtstag. Er ist geschäftlich hier, und ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten, Zuhause zu sitzen, so alleine... *unschuldiger Augenaufschlag*]

Sie hatte es sich in dem Sessel neben der Tür gemütlich gemacht und erwartete ihn mit gezogener Waffe.

Krycek frottierte sich - "Gangsta's Paradise" pfeifend - die Haare, als er aus dem Bad kam. Er brauchte nicht lange um festzustellen, daß er nicht alleine war.

"Das würde ich nicht tun!" Scullys entschiedener Ton stoppte seine Hand auf halbem Weg zur Pistole, die im Bund seiner Jeans steckte. *Das nenne ich vorsichtig!* dachte Scully. "Nimm sie mit zwei Fingern, leg sie auf den Boden und laß sie zu mir her rutschen!" Er befolgte ihren Befehl mit betont langsamen Bewegungen, um bedauerlichen Mißverständnissen vorzubeugen. Auch er schien aus ihrer letzten Begegnung gelernt zu haben.

"Also, Deckart, was willst du hier? Du bist doch nicht etwa einem Androiden auf der Spur?"

"Sie überraschen mich immer wieder, Dana. Ich dachte immer, von Ihnen beiden sein Mulder der Blade-Runner-Fan."

"Falsch gedacht. In dem Roman gibt's keine Außerirdische, hast du das vergessen? Und solltest du es nicht gemerkt haben: du machst der Figur keine Ehre - Deckarts Problem war doch, daß er ein Gewissen entwickelt hat, wenn ich mich recht erinnere. Übrigens, du kannst mich ruhig Dana nennen, aber nur, solange ich diejenige bin, die die Waffe in der Hand hält."

Kryceks Schultern spannten sich. Im Moment gab er nicht gerade eine beeindruckende Figur ab; er trug nichts außer den Jeans, und um seine nackten Füße hatten sich bereits kleine Pfützen gebildet. Aber es schien weit mehr nötig zu sein, um diesen arroganten Ausdruck von seinem Gesicht zu wischen. Scully fühlte, wie die Wut in ihr aufstieg.

"Ich bin gekommen, um ein paar Antworten zu hören. Du weißt, was hier läuft."

"Lassen Sie mich danach gehen?"

"Schon wieder das alte Lied? Das hatten wir schon einmal, und schau, wo wir gelandet sind. Ich bezweifle, daß du nur hier bist, um bei der Ente zu helfen. Sag mir nur einen Grund, warum ich dich nicht der Polizei übergeben sollte."

"Luis Cardinale. Ich habe gehört, daß man im Gefängnis leicht in Stimmung kommt, Selbstmord zu begehen. Ich möchte vermeiden, derselben... Versuchung zu erliegen."

"Und wer garantiert mir, daß du nicht für unseren Freund, den Krebskandidaten arbeitest? Daß du nicht den Auftrag hast, Mulder oder mich umzubringen?"

"Niemand. Aber hören Sie mir zu. Erstens, unser Freund, der Krebskandidat, ist nicht unbedingt auf mich angewiesen, um seine dreckigen Jobs erledigen zu lassen, er hat mehr als genug Männer, die mich ersetzen können. Und zweitens, wenn ich wirklich noch für ihn arbeiten würde, und, was für meinereinen am Wichtigsten ist, wenn er mich wirklich noch brauchen würde, wäre ich wieder frei, noch bevor sie sich umgedreht haben. In beiden Fällen haben Sie nichts davon."

Während er sprach, hatte Krycek begonnen, sich ihr ganz langsam und mit immer noch erhobenen Händen zu nähern. Scully hatte sich nicht einlullen lassen; als es ihr zu bunt wurde, faßte sie die Pistole fester und bewegte sie leicht auf und ab.

"Wage es nicht, auch nur noch einen einzigen Schritt zu machen. Hältst du mich für einen Anfänger?"

"Ich schätze Sie zu sehr, um einen solchen Fehler zu machen." erwiderte Krycek freundlich, "Also, was halten Sie von unserer Abmachung?"

Scully stand auf, und dann geschah alles viel zu schnell. Krycek zog mit dem Fuß am Teppich, auf dem sie stand und sprang auf sie zu, sich in dem Augenblick fallenlassend, als sie den Abzug durchdrückte.

"Es sieht ganz so aus, als müßten wir neu verhandeln, jetzt, wo die Machtverhältnisse sich geändert haben, finden Sie nicht?"

Scully bewegte sich nicht; ihr Körper war so angespannt, daß sie jeden einzelnen Muskel ihres Körpers spüren konnte. Kryceks Körper auf ihrem ließ ihren Magen revoltieren.

Für ein paar Sekunden lagen sie so da, und Scully schien es wie ein ganzes Leben - das Leben einer anderen Person. Krycek fixierte sie mit einem zweideutigen Lächeln, so, als gingen ihm erst jetzt alle Möglichkeiten auf, die die Situation bot. Dann, ganz langsam, beugte er seinen Kopf zu ihr hinunter; die Zunge zwischen den Zähnen. Scully spürte seinen schnellen Atem auf den Lippen und wandte den Kopf ab, aber er folgte ihr. Eine nasse Haarsträhne berührte ihre Wange, und ein Wassertropfen lief langsam ihren Hals hinunter. Sie schloß die Augen.

Und dann, plötzlich, war sein Gewicht verschwunden. Sie schlug die Augen auf und sah, daß Krycek aufgestanden war und die Pistole aufgehoben hatte. Er entfernte die Munition und ließ sich aufs Bett fallen. Verwirrt stand auch sie auf. Krycek hielt ihr, auf dem Bett liegend, die ungeladene Waffe hin.

"Was sagen Sie, ist unsere Abmachung noch gültig?"

**********

Minuten später saß Scully wieder im Sessel, während Krycek auf dem Bett lag und abwesend die Hand auf die Wunde an seiner Seite preßte, wo ihn die Kugel gestreift hatte. Das Zimmermädchen hatte, alarmiert vom Geräusch des Schusses, an die Tür geklopft, aber Krycek hatte sie beruhigt, indem er ihr erzählte, es sei nur ein Unfall gewesen, während er eine vollkommen perplexe Scully an sich drückte. Sie kapierte einfach nicht, was sich im Kopf dieses Verrückten abspielte.

"Also, stellen Sie mir jetzt die Fragen, wegen derer Sie gekommen sind?" sagte Krycek plötzlich, "Schießen Sie los, ich werde antworten."

Toll. Er hatte sich geweigert, den Mund aufzumachen, als eine Pistole auf seinen Kopf gerichtet war, und jetzt, nachdem er kurz davor gewesen war, sie zu vergewaltigen, war er plötzlich in Plauderlaune. Männer.

Scully atmete tief durch. "Also gut. Was willst du hier?"

"Ah-ah, sinnlose Frage. Ich habe Ihnen schon einmal erklärt, daß ich diese ganze Sache mit ziemlichem Interesse verfolge. Es ist wichtig für mich, daß Mulder alles halbwegs heil übersteht, und ich hänge zu sehr an meiner Haut, um ihn alleine machen zu lassen. Nächste Frage."

Scully feuchtet ihre Lippen an und neigte den Kopf zur Seite. "Bawinsky wurde umgebracht, nicht war?"

"Sehr gut, ich wußte doch, daß Sie auf Draht sind."

"Warst du's?"

"Ich ziehe alles zurück, was ich eben gesagt habe: nein, ich war's nicht."

"Wieso weißt du es dann?"

"Er war O'Reillys größter Gegner; mit ihm verliert Halmond seinen besten Jagdhund. Ein Selbstmord zu diesem Zeitpunkt wäre ein zu großer Zufall."

"Das hilft mir nicht weiter, das sind alles nur Spekulationen. Weißt du etwas Genaueres?"

"Nun, ich habe mich tatsächlich ein bißchen umgesehen. O'Reilly hat merkwürdige Freunde."

"Verdammt, Krycek, hör auf mit den Spielchen. Hat er einen Killer angeheuert?"

Krycek lachte, ein kaltes, unangenehmes Lachen. Dann wurde er augenblicklich wieder ernst., so, als habe jemand einen Schalter umgelegt. "Soweit ich weiß nicht. Aber ich habe ein paar Typen beobachtet, die nachts um die Häuser derer schleichen, die am nächsten Tag plötzlich beschließen sich umzubringen."

"Könnten diese Typen Bawinskys Auto manipuliert haben?"

Krycek hob überrascht den Kopf. "Manipuliert?"

"Wir haben Kratzer hinter einem Kotflügel gefunden. Dort könnte etwas befestigt gewesen sein."

"Etwas von der Größe einer Schachtel Zigaretten, mit einem Magneten? Etwas, das mit der Elektronik des Autos verbunden gewesen sein könnte?"

"Ja, möglich. Was ist das?"

"Ich habe keine Ahnung. Aber das ist das, was ich gesehen habe."

Scully stand auf und ging im Zimmer auf und ab, während sie über die Bedeutung von Kryceks Worten nachdachte. Er verriet ihr nicht gerade wunder welche Geheimnisse, alles, was er bisher gesagt hatte, hatte sie mehr oder weniger auch schon selber herausgefunden. Das Problem war, herauszufinden, was ihr das, was Krycek sagte, über Krycek selber verriet.

Plötzlich erhob Krycek sich und ging zu einem halbhohen Schrank. Er nahm ein paar Fotos aus einer Schublade und gab sie Scully, die sie durchsah. Das konnte ein Anfang sein, vor allem, wenn sie es schafften, den Mann zu finden, der auf den Fotos verewigt war, wie er an Bawinskys Auto herumbastelte. Vielleicht könnte man ihm eine Verbindung zu O'Reilly nachweisen und Mulder so aus der Klemme holen. Vielleicht.

Aber die Fotos bewiesen etwas noch viel Interessanteres: Krycek hatte ihr soeben, ganz entgegen seinen Gewohnheiten, konkrete Beweise geliefert. Und das war viel mehr, als sie sich erhofft hatte, als sie dieses Zimmer betreten hatte.

**********

Als Scully gegangen war, starrte Krycek nachdenklich auf die Tür. Schließlich wandte er sich um und hob das Handtuch auf, das auf den Boden gefallen war und hängte es sich um den Hals. "Ich habe immer schon gewußt, daß du ein hervorragender Schauspieler bist, Alex."

Krycek sah den Mann nicht an, der am Rahmen der Tür zum Badezimmer lehnte und sich eine Zigarette anzündete. Er kannte den anonymen dunklen Anzug, die gepflegten Hände und das Hochnäsige-Kleiner-Junge-Gesicht des anderen viel zu gut.

"Fick dich."

Der Mann lachte leise.

"Ehrlich, du warst großartig. Die Szene mit dem Quasi-Kuß hat mich besonders beeindruckt. Aber ich fürchte, ich habe deine Absichten nicht ganz verstanden, war das geplant oder hast du improvisiert? Auf jeden Fall war das sehr macho."

"Geh zum Teufel!" Krycek kontrollierte die Sicherung seiner Waffe, und als er weitersprach, enthielte seine Stimme jene Mischung aus Wut, Langeweile und Unberechenbarkeit, die den anderen warnte, das Spiel nicht zu weit zu treiben. "Wir haben einen Job zu erledigen."

**********

Scully war müde, fühlte sich müde und war sich vollkommen bewußt, daß sie auch müde aussah, als sie an die Holztür klopfte. Hierher zu kommen und ihn zu suchen erschien ihr wie einer der verrückten Einfälle eines Mulder in Hochform. Und trotzdem, wenn sie Mulder hier fand, wenn er immer noch Beweise gegen einen Mordverdächtigen suchte, dann würde das der Fall O'Reilly bleiben. Nicht der Fall Mulder werden. Aber wie sollte es möglich sein, daß ihn diese bescheidene Farm einfach so verschluckt hatte, während rundherum Dutzende von Polizisten das ganze County nach ihm absuchten?

Die Frau, die ihr öffnete, überraschte sie. Sie war eine alte Frau mit weißem Haar, Gute-Fee-Brillen und so freundlichem Gesicht, daß Scully sofort nachsah, ob das Haus nicht vielleicht doch aus Lebkuchen gemacht war. Das war es nicht, und Scully fand ihre Fassung wieder. In letzter Zeit verkehrte sie mit entschieden zu vielen Paranoikern.

"Kann ich Ihnen helfen?"

"Ich bin Agent Dana Scully vom Federal Bureau of Investigation. Ich suche..."

"Ah, Scully! Ich freue mich, Sie endlich kennenzulernen, Fox spricht so viel von Ihnen! Oh, entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit, kommen Sie doch bitte herein, machen Sie es sich bequem. Ich bin Mrs O'Reilly."

Scully trat ungläubig ein. Mulder rannte in der Gegend herum und erzählte von ihr? Die ganze Sache wurde langsam sehr merkwürdig.

"Kommen Sie, kommen Sie, ich zeige Ihnen den Weg. Fox ist hinter dem Haus."

Scully hatte immer geglaubt, nichts könne sie mehr überraschen, seit sie mit Mulder zusammenarbeitete. Sie hatte ihn unglaubliche Theorien erläutern gehört, hatte ihn die merkwürdigsten Dinge tun sehen - sich mit den Lone Gunman unterhalten, zum Beispiel - aber das alles hatte sie nicht auf die Szene vorbereitet, die sie jetzt zu sehen bekam. Mit wütendem Schritt - und trotzdem darauf bedacht, allen verdächtigen Flecken auf dem Boden auszuweichen - näherte sie sich dem Gehege, in dem Mulder... Hühner fütterte.

"Süß. Der Fuchs im Hühnerstall. Spielst du "Unsere kleine Farm", Fox?"

"Scully!" Mulder beeilte sich, den Kübel auszuleeren und aus dem Gehege zu kommen, wobei er aufpaßte, daß eine hektische Henne, die ihm ziemlich zugeneigt zu sein schien, ihm nicht folgte. Ein strahlendes Lächeln erhellte sein Gesicht, das sonnengebräunt war. Trotzdem wirkte er müde. "Ich bin froh, daß du mich besuchen kommst."

Er nahm einen Schlüssel aus der Tasche und machte sich am Gatterschloß zu schaffen; der Schlüssel war nicht besonders klein, aber es gelang ihm trotzdem, das Schlüsselloch zweimal zu verfehlen. Scully spürte ein unangenehmes Gefühl in der Magengrube und zwang sich, ruhig zu bleiben.

"Mulder, die Nachricht, die du mir geschickt hast..."

"Ach ja, die Nachricht. Warum setzen wir uns nicht auf die Veranda?"

Mulder und Scully saßen sich gegenüber, getrennt durch ein Holztischchen und einer ganzen Welt von Gefühlen und Bildern. Scully betrachtete ihren Partner aufmerksam und ungläubig. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, was mit ihm passierte - wahrscheinlich schon passiert war. Normalerweise ließ sie sich von ihrem beruflichen Instinkt leiten, aber manchmal konnte sie einfach nicht verhindern, daß darunter ihre Sorge um Mulder zum Vorschein kam.

"Geht es dir gut, Mulder?"

"Ja, sicher. Ich habe versprochen, den anderen zu helfen, während der Erntezeit wird jeder gebraucht. Wir arbeiten hart, aber das ist das, was ich brauche." Er redete, als würde er etwas Auswendiggelerntes rezitieren. Kurze, zusammenhanglose Sätze ohne jeden Sinn. "Ich bin nicht daran gewöhnt, deswegen sehe ich vielleicht ein bißchen müde aus, aber mit der Zeit werde ich mich daran gewöhnen. Das kann mir nur guttun."

Scully hatte immer geglaubt, ihn zu kennen, hatte gedacht, die künstliche Fassade von Spooky Mulder durchbrochen zu haben, aber in diesem Moment hatte sie den Eindruck, ein verzerrtes Abbild ihres Partners vor sich zu haben. Aber verzerrt wodurch?

"Hast du mir etwas zu sagen, Mulder? Etwas, das... Samantha betrifft?"

Sein Kopf schoß hoch. Er starrte sie überrascht an, und Scully wußte nun, daß ihre Sorge begründet war. Also beschloß sie weiterzubohren.

"Diese Nachricht. Was geschieht hier? Was geschieht mit dir?"

"Ich weiß nicht genau." Er wirkte wie ein Erstkläßler, der plötzlich das Gedicht vergessen hat, das er hätte lernen sollen, verwirrt, verloren. "Ich habe diese Träume..."

"Möchte jemand frisch gepreßte Limonade?" Mrs O'Reilly schien sich aus dem Nichts vor ihnen materialisiert zu haben, Scully hatte nicht einmal gehört, daß sich die Tür geöffnet hätte, "Es ist ein so warmer Tag heute, und Fox arbeitet schon seit einigen Stunden."

Sie stellte zwei Gläser und eine riesige, volle Karaffe auf den Tisch.

"Ich bin froh, daß sie es geschafft haben, ihn zu einer Pause zu überreden; ich sage dauernd, er soll sich ausruhen, aber er gehorcht mir nie - macht er das bei ihnen auch?"

"Manchmal." Scully merkte selber, daß die Antwort nicht gerade intelligent klingen mußte, aber Mulder war doch nicht ihr Hund!

Sie beobachtete ihn, wie er ihr eines der vollen Gläser reichte. Seine Hand zitterte, und etwas von der Limonade landete auf dem Tisch, um auf ihren Rock zu enden. Mulder lachte - das Lachen eines Unbekannten.

"Gestern habe ich den ganzen Nachmittag lang Holz gehackt, und seither weigert sich mein rechter Arm, das zu tun, was ich ihm befehle. Heute morgen hatte ich einen derartigen Muskelkater, daß ich kaum aus dem Bett gekommen bin."

Mrs O'Reilly legte eine Hand auf seine Schulter und ermutigte ihn zu trinken. Dann ging sie wieder ins Haus.

"Also, Scully, was war es noch einmal, worüber du mit mir sprechen wolltest?"

Dein Job. Versuchs mit Beruflichem. Laß den Rest. Konzentrier dich auf deinen Job.

"Es hat noch einen Toten gegeben, hast du davon gehört?"

"Ja, Bawinsky. Und ich weiß auch, was ihr jetzt denkt. O'Reilly hat mir erzählt, daß dieser Typ ihn nicht ausstehen konnte und daß der Verdacht jetzt erst recht auf ihn fallen würde." Schnell, effizient, leicht gelangweilt. "Aber denk doch nach, Scully. Erstens ist noch nicht einmal sicher, daß Bawinsky ermordet wurde, und dann, glaubst du nicht, daß es, nun ja, etwas unvorteilhaft für O'Reilly wäre, seinen ärgsten Gegner ausgerechnet dann umzubringen, wenn das FBI und die ganze Polizei von New Mexico hinter ihm her sind?"

"Ich bin überzeugt davon, daß Bawinsky ermordet worden ist." Sie wartete, bis der Satz seine Wirkung gezeigt hatte und reichte ihm dann die Akte; sie würde ihn überzeugen. Aber sie hätte wissen müssen, daß Mulders Gehirn nicht arbeitete wie das anderer Menschen. Anstatt ihr zuzustimmen lachte er laut auf.

"Anstiftung zum Selbstmord durch Manipulation des Autos? Du meinst wie die satanischen Botschaften rückwärts auf Nirvana-CDs? Oh, Scully, vielleicht hast du dich wirklich zu lange mit mir abgegeben. Wo ist denn dein unbezähmbares Bedürfnis nach konkreten Beweisen geblieben?"

"Stimmt, wir haben noch keine Beweise, aber wir haben ziemlich belastende Indizien. Da sind zum einen die Kratzer am Auto und Zeugenaussagen, daß Bawinsky nicht allein im Auto war, als er die Stadt verlassen hat - was übrigens auch die Spurensicherung bestätigt hat. Im Auto wurden Haare gefunden, die weder dem Opfer noch seinen Familienangehörigen zuzuordnen sind, und außerdem Spuren frischer Erde unter dem Beifahrersitz."

"Der gute Bawinsky hat also einen Anhalter mitgenommen, und ihr zettelt eine moderne Version der Hexenjagd an. Sehr professionell."

"Zufällig trifft die Beschreibung dieses Anhalters auf einen Mann zu, der fotografiert wurde, als er sich mitten in der Nacht an Bawinskys Auto zu schaffen machte - in der Nacht vor seinem... Selbstmord."

Das war ihr versteckter Trumpf gewesen. Jetzt war Mulder an der Reihe.

"Wow, was für eine Kombination, Scully, Fotos..." Er lachte, und Scully verspürte plötzlich das dringende Verlanden, ihm das arrogante Grinsen aus dem Gesicht zu schlagen. "Und woher hast du diese berühmte Fotos? Hast du sie unter deinem Kopfkissen gefunden? Oder hat dir eine körperlose Stimme eingeflüstert, wo sie zu finden sind? Du hast ihr Spiel immer noch nicht durchschaut, oder?"

Scully dachte an Krycek und zögerte. Aber sie faßte sich sofort wieder; wenn er es auf die harte Tour spielen wollte, konnte sie ihm den Gefallen tun.

"In Ordnung, Mulder. Du bist raus aus dem Fall O'Reilly. Skinner hat mir die Autorität gegeben, das zu entscheiden. Und den Fall selber zu übernehmen, wenn ich finde, du seist nicht mehr in der Lage, eine objektive Untersuchung zu führen."

Mulder lachte nur.

**********

Ein Gewitter. Es mußte ein Gewitter sein, der Strom war weg. Deshalb war es so dunkel.

Er war wieder ein Kind. Zwölf, dreizehn Jahre, nein, zwölf, er war sich sicher; er trug immer noch das alte Dress der Pittsburgh Penguins, das ihm sein Cousin geschenkt hatte. Seit er es bekommen hatte, hatte er nichts anderes mehr angezogen, wenn er zu Bett ging - bis seine Mutter es nach einem heftigen Streit schließlich weggeworfen hatte.

Warum sind sie weggegangen, ohne uns etwas zu sagen?

Er stieg langsam die Treppe hoch. Er wußte nicht mehr, warum er im Wohnzimmer aufgewacht war, aber es war nicht das erste Mal gewesen, daß er plötzlich in irgendeinem anderen Zimmer - stehend - aufgewacht war. Ehrlich gesagt passierte ihm das sogar ziemlich oft seit der Nacht, in der...

Samantha?

Bist du wach?

Samantha hatte immer schon einen tiefen Schlaf gehabt. Es war immer er, der als erster aufwachte, wenn irgend etwas nicht stimmte. Manchmal lag er dann in seinem Bett, sah sie auf der anderen Seite des Zimmers schlafen und wünschte sich verzweifelt, daß das Gewitter oder was auch immer sie weckte und zu ihm laufen ließ, um sich in seinen Armen zusammenzurollen und augenblicklich wieder einzuschlafen. Das hatte sie als kleines Kind oft getan; damals war es ihm lästig gewesen, weil Samantha alles andere als eine ruhige Schläferin war, und er in solchen Nächten üblicherweise dann überhaupt nicht mehr zum Schlafen kam. Aber jetzt hätte er sie gerne festgehalten. Er konnte ihren ruhigen Atem hören.

Sie ist nicht hier. Das Bett ist leer, zerwühlt. Die Leintücher sind noch warm. Wo bist du, Sam?

Es ist kalt. Das Fenster steht offen. Das ist seltsam, es ist Winter.

Ein Licht. Wer ist da?

Mama würde böse sein. Sie sagte immer, er sei zu alt für solche Sachen. Und außerdem war er ein Junge. Er mußte nett zu ihr sein. Er mußte mit ihr spielen, aber keine Jungenspiele, bitte. Er durfte nicht den ganzen Tag lang hinter ihr herrennen, aber sie durfte ihm auf den Fersen sein, egal, was er tat. Und er durfte sie nicht wütend machen. Sam wurde leicht wütend. Zum Beispiel hatte Mom gesagt, er mußte sie gewinnen lassen, wenn sie Stratego spielten. Sie glaubten immer, er mache das absichtlich, weil er vier Jahre älter war, und sie sich nicht vorstellen konnten, daß sie wirklich gewinnen könnte.

Bist du da draußen, Sammy? Du bist doch hoffentlich nicht schon wieder aufs Dach hinausgeklettert?

Dummes, furchtloses Mädchen.

Samantha machte alles richtig und gut. Sie träumte nicht mit offenen Augen. Sie machte keine Dummheiten. Zumindest nicht, wenn man hinsah.

Das Dach ist eisig. Und wenn sie ausgerutscht war?

Ein plötzlicher Schmerz an den Fingern. Ich werde mir noch den Hals brechen wegen diesem blöden, furchtlosen Mädchen. Wahrscheinlich sitzt sie im Warmen, schaut mir von ihrem Versteck aus zu und lacht mich aus.

Die Finger geben nach. Papa sagt immer, ich muß mehr trainieren. Die Augen schließen. Wenn ich schon falle, will ich's wenigstens nicht sehen.

Eine Hand auf seinen zitternden Fingern.

Eine Stimme.

Samantha.

Sie lacht.

Dummer Fox.

Sie berührt seine Finger.

Du machst auch gar nichts richtig.

Sie löst seine Finger vom Fensterbrett.

Und läßt los.

ES IST DEINE SCHULD!

**********

Mulder wachte auf und stellte fest, daß er auf dem Boden vor dem Bett lag. Das war ihm seit Jahren nicht mehr passiert; dieses furchtbare Gefühl, ins Bodenlose zu fallen war wahrscheinlich dadurch ausgelöst worden, daß er aus dem Bett gefallen war. Aber auch diese logische Erklärung schaffte es nicht, das Zittern abzustellen, das seinen Körper schüttelte.

Er kam mühsam auf die Füße und schwankte. Es war ein Alptraum - aber nicht der Traum eben.

Der Korridor war dunkel. Natürlich, alle anderen schliefen, es war vier Uhr früh. Er hoffte nur, ins Bad zu kommen, ohne jemanden aufzuwecken; er war sich nicht ganz sicher, ob er das schaffen würde.

Er keuchte, als er das Waschbecken schließlich erreicht hatte. Das eiskalte Wasser wusch den Schweiß von seinem Gesicht und seinen Händen, aber das Zittern wurde nur noch schlimmer. Er trank. Seit ein paar Tagen hätte er einen See hinter sich herschleppen müssen, um seinen Durst zu stillen, sein Hals verwandelte sich sofort in eine Wüste, wenn er das Glas wegstellte.

Sein Herz machte Überstunden. Er sah sein Spiegelbild an. Scully hatte wohl recht, wenn sie sich um seine Gesundheit sorgte. Er mußte schlafen, um wieder zu Kräften zu kommen, aber in diesem Zustand war nicht daran zu denken. Er öffnete das Medizinschränkchen über dem Waschbecken. Mrs O'Reilly hatte ihm von ihren gesundheitlichen Problemen erzählt, von ihren Panikattacken, die sie ganze Nächte lang nicht schlafen ließen, bis sie dieses wunderbare Mittel entdeckt hatte...

Da war es. Das Etikett behauptete, es müsse vom Arzt verschrieben werden. Aber was konnte ihm eine einzige Tablette denn anhaben?

 

Ende von Teil 2

 

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